Wieviel Globalisierung tut gut?

 

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Ausgangslage

Globalen Handel von Rohstoffen und Produkten auch über weite Entfernungen hinweg, z. B. zwischen Europa und China, gibt es schon seit Jahrtausenden. Da der Transport häufig gefährlich und beschwerlich war, beschränkte sich der Handel bis ins 20. Jahrhundert hinein jedoch zumeist auf Dinge, die nur in einer bestimmten Region vorkamen oder hergestellt werden konnten, in anderen Weltgegenden dagegen nicht. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts und verstärkt seit den 70er Jahren hat der weltweite Handel u. a. aufgrund verbesserter Transportmöglichkeiten und des intensiven Bemühens insbesondere großer und sehr großer Unternehmen, neue Absatzmärkte zu erschließen, enorm zugenommen. Außerdem verlagerten Unternehmen verstärkt Produktionsstätten aus den westlichen Ländern in südliche und seit ca. 1990 auch in östliche Länder, da dort die Löhne und die Unternehmenssteuern zumeist sehr viel niedriger sowie die Arbeitsschutz- und Umweltschutzauflagen zumeist sehr viel lockerer waren – und in der Regel immer noch sind.

Einigen Ländern gelang durch diese Investitionen ein wirtschaftlicher Aufstieg, aber die ökologischen und sozialen Kosten – Naturzerstörung, Umweltverschmutzung, Erderwärmung, Zerfall sozialer Strukturen, ungenügende Infrastruktur – sind häufig hoch. Die Konsument*innen in Europa und den USA profitieren bislang von der Globalisierung vorwiegend über Preise, die deutlich niedriger sind, als wenn das Produkt im eigenen Land hergestellt worden wäre, aber durch die Verlagerung von Produktionsstätten in südliche und östliche Länder sind in Europa und den USA auch etliche Arbeitsplätze verlorengegangen – und die Löhne insbesondere im Niedriglohnbereich gesunken. Am meisten profitierten und profitieren von der Globalisierung die Eigentümer*innen/Aktionär*innen sowie die Manager*innen großer und sehr großer Unternehmen, denn die Gewinnspannen sind bei Produkten, die in Niedriglohnländern wie Bangladesch oder Bulgarien hergestellt und in Westeuropa, den USA, Kanada oder Australien zu einem Vielfachen der Herstellungskosten verkauft werden, gigantisch.

Ein wichtiger Teilbereich der Globalisierung ist der globale Tourismus. Er bringt durch Investitionen von Tourismusunternehmen und durch die Tourist*innen selbst Geld und Arbeitsplätze in die touristisch interessanten Regionen, aber den Großteil des Gewinns erhalten nicht die Beschäftigten vor Ort, sondern die Tourismusunternehmen. Außerdem sind auch beim Tourismus die negativen Folgen häufig beträchtlich: Naturzerstörung, Umweltverschmutzung, Erderwärmung, Verschandelung der Landschaft durch Bettenburgen, Überfüllung und Beschädigung von Städten und Landschaften durch Tourist*innen etc. Für die meisten europäischen und US-amerikanischen Tourist*innen freilich sind die Auslandsreisen ein individueller Gewinn: Sie können an Orten Urlaub machen, die aufzusuchen sich bis ca. 1960 nur eine kleine wohlhabende Minderheit leisten konnte, und sie müssen dafür meistens weniger Geld ausgeben als für einen Urlaub in ihrem Heimatland.

Globalisiert ist auch die Landwirtschaft, und zwar nicht nur insofern, als z. B. Früchte exportiert und importiert werden, die in manchen Weltgegenden gedeihen, in anderen aber nicht, z. B. Bananen oder Apfelsinen. Ein solcher Handel ist sicherlich in Maßen sinnvoll. Aber es werden auch Waren produziert, mit denen weltweit zu handeln nicht sonderlich sinnvoll ist und deren Produktion der Allgemeinheit schadet. Ein Beispiel dafür bieten die Schweinemäster*innen: Sie werden – sofern sie Land besitzen – von der EU subventioniert und produzieren über den Bedarf in Deutschland hinaus in Ställen mit hunderten oder tausenden von Tieren auf engstem Raum in industrieller Tierhaltung Schweinefleisch. Das Schweinefleisch wird zu einem erheblichen Teil exportiert, die Futtermittel für die Schweine, z. B. Soja, werden großenteils aus Regenwaldländern wie Argentinien, Brasilien und Paraguay importiert. Dort wird für den Futtermittelanbau – und für die Rinderzucht – der Regenwald unwiederbringlich vernichtet. Die Fäkalien der Schweine werden in Deutschland in Form von Gülle als Dünger auf die Felder gebracht, aber – da in der Massentierhaltung viel mehr Gülle produziert wird, als sinnvoll als Dünger verwendet werden kann – im Übermaß mit der Folge der Überdüngung, der zunehmenden Nitratbelastung des Grundwassers und der zunehmenden Verbreitung von multiresistenten, auch für den Menschen gefährlichen Bakterien. Für die Hühner-, Puten- und Rindermast gilt im Prinzip das Gleiche wie für die Schweinemast.

Globalisiert ist ferner die Produktion von Medikamenten und Medizinprodukten, z. B. Schutzmasken. Aus Kostengründen werden sie großenteils nicht in Deutschland und häufig auch nicht im europäischen Ausland, sondern in China oder Indien oder anderen asiatischen Staaten produziert, und zwar in der Regel nur von wenigen großen Unternehmen. Das hat dazu geführt, dass lebenswichtige Medikamente in Deutschland zeitweise nicht mehr erhältlich sind. Die Corona-Pandemie verschärft die Lage.

Die Corona-Pandemie stellt die bislang schon diskussionswürdigen Geschäftspraktiken der bisherigen Globalisierungsgewinner nun auch aus Gesundheitssicht in Frage: Wenn ein gefährliches Virus unbemerkt und ungehindert in wenigen Stunden von China ans andere Ende der Welt gelangen kann, wenn globale Lieferketten zusammenbrechen, wenn der globale Tourismus und ein Großteil der Verkehrsindustrie zum Stillstand kommen, wenn das gesamte öffentliche Leben fast auf Null heruntergefahren werden muss, um Menschenleben zu retten, dann stellt sich die Frage, was schiefgelaufen ist und wie man es in Zukunft besser machen kann.

Gründe für das Desaster

Die Schwierigkeiten wären jetzt nicht so groß, wenn man hinsichtlich der Informationsgewinnung, -übermittlung und -verwertung vorgesorgt, von wichtigen, teilweise lebenswichtigen Produkten Vorräte angelegt und bei nicht zwingend notwendigen Veranstaltungen und Aktivitäten wie Après-Ski-Partys, Karnevalssitzungen, Starkbierfesten und Fußballspielen spätestens dann nicht mehr mitgemacht hätte, als die Existenz des Virus in der Region bekannt war – und nicht erst Tage oder Wochen später. Solche Zurückhaltung setzt natürlich voraus, dass man die Gefährlichkeit des Virus – die schon ziemlich früh feststand – nicht ignoriert – sei es aus Sorge um die Wirtschaft, sei es aus Fahrlässigkeit, sei es aus Angst um das eigene Einkommen oder sogar finanzielle Überleben – und sich selbst und seine Mitmenschen schützen möchte.

Das chinesische Regime z. B. hat in den ersten Wochen die Überbringer der schlechten Nachricht bestraft, anstatt die Ausbreitung des Virus sofort und intensiv zu bekämpfen, und auch in den europäischen Ländern sind Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus zu spät eingeleitet worden. Den Wirt*innen und Skiliftbetreiber*innen und Regionalpolitiker*innen in Ischgl z. B. waren Umsatz und Gewinn offenkundig wichtiger als die Gesundheit und das Leben ihrer Gäste und Angestellten/Aushilfskräfte. Und auch heute (Mai 2020) und in Deutschland gibt es etliche "Lockerungs-Apostel*innen", denen die "Wiederankurbelung" der Wirtschaft gar nicht schnell genug gehen kann und die bereit sind, dafür (sehr viel) mehr Infizierte und (sehr viel) mehr Tote in Kauf zu nehmen. Dabei ist ein großes Problem, dass Menschen exponentielles Wachstum schlecht einschätzen können und die Auswirkungen in der Regel deutlich unterschätzen.

Allerdings: Nicht zu den Risikogruppen gehörenden Menschen, denen – wie vielen "kleinen" Selbständigen, Kleinunternehmer*innen, Soloselbständigen und auf Jobs zur Finanzierung des Studiums angewiesenen Studierenden – finanziell das Wasser bis zum Halse steht oder die arbeitslos geworden / von Arbeitslosigkeit bedroht sind, kann man es kaum verdenken, wenn sie darauf drängen, wieder arbeiten und Geld verdienen zu können, denn: "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral." (Bertolt Brecht) – gutsituierten Politiker*innen und Wirtschaftsvertreter*innen und allen, die sich für unverwundbar halten, weil sie fit und jung und gesund sind, und ihren Spaß haben wollen, auch wenn der Spaß andere Menschen das Leben kostet, kann man es dagegen sehr wohl verdenken, wenn sie die Kontaktbeschränkungen aus nichtigen Gründen aufgehoben haben wollen.

Verbesserungsvorschläge

Die Verlust- oder sogar Existenzängste vieler Menschen in Deutschland hinsichtlich ihrer privaten wirtschaftlichen Situation, die manche inzwischen auch für völlig unbewiesene und abwegige Verschwörungstheorien empfänglich machen, ließen sich dadurch zumindest mindern, dass ihnen – und sei es befristet – ein monatliches Grundeinkommen zur Verfügung gestellt wird. Sozialhilfe und Hartz IV bieten kein solches Grundeinkommen, denn sie sind an Bedürftigkeit gekoppelt und greifen erst, wenn die Menschen bereits in die Armut abgerutscht sind. Gerade die Angst vor der Armut ist aber einer der Hauptgründe für die Ablehnung von Kontaktbeschränkungen zugunsten des Überlebens alter und gesundheitlich vorbelasteter Menschen in Zeiten der Corona-Pandemie.

Eine sinnvolle Maßnahme, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, ist neben Kontaktbeschränkungen die Registrierung und damit Nachverfolgbarmachung der Kontakte, damit Infizierte, deren Infektion erkannt worden ist, und deren Kontaktpersonen in Quarantäne geschickt werden können. Auch die Ausweitung der Nachweistests auf nicht offensichtlich Infizierte ist sinnvoll, da viele Infizierte fast oder völlig frei von Krankheitssymptomen, aber gleichwohl ansteckend sind. Beide Maßnahmen werden in Deutschland derzeit (Mai 2020) allenfalls ansatzweise umgesetzt, obwohl die Umsetzung technisch möglich und gerade auch im Hinblick auf Lockerungen der Kontaktbeschränkungen nützlich wäre: Wenn man präziser wüsste, wo sich das Virus gerade verbreitet, könnte man die Kontaktbeschränkungen für genau diese Regionen verschärfen, für weniger oder gar nicht betroffene Regionen dagegen lockern oder ganz aufheben.

Es wäre vernünftig, die Registrierung zumindest von Fernreisenden und die Registrierung ihrer Kontaktpersonen während einer möglichen Inkubationszeit nach der Rückkehr oder alternativ eine generelle Quarantänezeit für Rückkehrer aus Risikogebieten auch dann beizubehalten, wenn ein Impfstoff oder ein wirksames Medikament gegen COVID-19 zur Verfügung stehen. Schließlich muss jederzeit mit neuen, noch viel schrecklicheren Infektionskrankheiten gerechnet werden. Dass Geschäftsreisende oder Urlauber*innen in Gegenden reisen, in denen gefährliche und zugleich leicht übertragbare Infektionskrankheiten grassieren, und nach der Rückkehr nicht – und zwar wegen der Inkubationszeit über einen längeren Zeitraum hinweg – daraufhin beobachtet/untersucht werden, ob sie sich angesteckt haben, sollte in Zukunft nicht mehr passieren.

Ferner ist grundsätzlich zu überlegen, was Deutschland importieren oder exportieren sollte oder besser nicht: Wenn Im- oder Exporte zwar dem Unternehmen Profit, aber der Bevölkerung Deutschlands oder sogar der Menschheit insgesamt mehr Schaden als Nutzen bringen, sollte man sie meiner Meinung nach verbieten oder zumindest auf ein vertretbares Maß reduzieren. Das sollte meines Erachtens z. B., um an die oben zur Landwirtschaft bereits gemachten Ausführungen anzuknüpfen, für den Import von Futtermitteln und den Export von Fleisch – insbesondere auch für den faktisch immer höchst tierquälerischen Export lebender Nutztiere – und Fleischwaren gelten. Darauf, dass die industrielle Landwirtschaft und die industrielle Tierhaltung erheblich zu Artensterben, Naturzerstörung, Umweltverschmutzung und Erderwärmung mit ihren verheerenden Folgen beitragen, wurde bereits im Text Maßnahmen zur Treibhausgasreduzierung hingewiesen. Auch dass in Deutschland und anderen Ländern regelmäßig der Tierschutz dem Gewinninteresse der Agrarindustrie und dem Interesse offenbar der meisten Verbraucher*innen an möglichst vielem – gemessen an den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung viel zu vielem – und möglichst preiswertem Fleisch geopfert wird, wurde dort bereits erwähnt.

Zu diskutieren ist ferner, welche Dinge trotz dann höherer Kosten besser in Deutschland – oder vielleicht noch im europäischen Ausland – produziert oder durch alternative Produkte ersetzt werden sollten statt aus wirtschaftlich unsicheren und/oder politisch feindseligen Staaten wie China oder Russland oder Saudi-Arabien importiert zu werden. Das betrifft z. B. Medikamente und Medizinprodukte oder Rohstoffe wie Erdöl und Erdgas. Die Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat sollten darauf hinwirken, dass lebenswichtige Medikamente und Medizinprodukte sowie sonstige lebenswichtige Waren entweder in Deutschland selbst hergestellt oder zumindest hinreichend große Vorräte derselben für den Fall der Unterbrechung des Nachschubs angelegt werden. Hinsichtlich des Energiebedarfs sollten sie dafür sorgen, dass Deutschland dank alternativer Energien und Einsparungen – z. B. bei Passivhäusern oder durch Reduzierung der Größe, Menge und Geschwindigkeit von Lkws und Pkws – weniger abhängig wird.

Viel mehr Globalisierung bzw. globale Abstimmung und Zusammenarbeit ist dagegen meines Erachtens auf politischer Ebene notwendig. Transnationale oder gar globale Probleme – Erderwärmung, Pandemien, Verschmutzung der Meere, Naturzerstörung, Flüchtlingsströme – lassen sich nun einmal nicht im nationalstaatlichen Rahmen lösen, sondern nur durch Zusammenarbeit der Staaten. Ob uns die Bewohner*innen und Politiker*innen anderer Länder sympathisch sind oder nicht und ob wir sie für faul, korrupt, habgierig, verschwenderisch, rücksichts- und gewissenlos, machtversessen oder Schlimmeres halten, ist dabei unerheblich: Es gibt zur internationalen Zusammenarbeit keine Alternative außer jener, die globalen Probleme nicht zu lösen und stattdessen abzuwarten, bis die Katastrophe eintritt.

Für die Bewohner*innen insgesamt wohlhabender Staaten wird die Rettungsaktion mit Kosten verbunden sein: Wer möchte, dass Afrikaner*innen in Afrika bleiben, muss dort in Bildung, Ausbildung und gut bezahlte, zukunftsträchtige Arbeitsplätze investieren und diese Hilfe an Bedingungen bezüglich der Achtung der Menschenrechte und einer Regierungsführung, die das Wohl der Bevölkerung und nicht (vorrangig oder ausschließlich) das Wohl der Regierenden im Blick hat, knüpfen. Erfahrungsgemäß sinken mit steigendem Wohlstand und besseren Sozialsystemen dann auch die Geburtenraten. Und wer den Regenwald oder generell nicht vom Menschen bewirtschaftete Gebiete erhalten möchte, muss den Menschen in den entsprechenden Staaten ermöglichen, auf andere Weise als z. B. durch Soja, Palmöl und Rinderzucht genug Geld zu verdienen. Dann kann man auch vertraglich regeln und kontrollieren lassen, dass die zu schützenden Gebiete nicht zerstört oder übernutzt werden. Als Deutsche(r) sollte man demütig daran denken, dass es in Deutschland selbst kaum noch nicht bewirtschaftete Flächen gibt, obwohl wir es uns leisten könnten, weniger Fläche für Städtebau, Intensivlandwirtschaft und Verkehr zu nutzen und stattdessen mehr Wälder, Seen, Heiden, Moore und auch Parks zuzulassen oder anzulegen bzw. zu erhalten und zu pflegen.
 

Entstehungszeit: Mai 2020
 

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