Fortschritt – welcher und wohin?

 

Alternativ: Mobilversion

Homepage

Spiele wie Memory

Ausgangslage

Wenn von Fortschritt die Rede ist, ist meistens der technische Fortschritt gemeint, also die Entwicklung und Zurverfügungstellung von Produkten, die das Leben leichter und angenehmer machen (sollen). Allerdings hat sich inzwischen schon so manches dieser Produkte als janusköpfig erwiesen: Das Internet und die sogenannten sozialen Medien z. B. können zwar die Kommunikation erleichtern und der Information und Unterhaltung dienen, erleichtern aber auch gezielte Desinformation und – z. B. – Wahlbeeinflussung durch Fake News sowie Mobbing und Agitation bis hin zur Anstiftung zum Mord. Und die durch Automatisierung und Rationalisierung möglich gewordene Massenproduktion von Konsumgütern mag die Konsument*innen kurzzeitig erfreuen, führt aber, da es bislang keine umfassende Verpflichtung zur Kreislaufwirtschaft und zur Vermeidung ökologischer Schäden gibt, zu einem Ressourcenverbrauch über das vom Ökosystem Erde verkraftbare Maß hinaus und zur Produktion von Müll in einer solchen Menge und von einer solchen Beschaffenheit und Lebensdauer, dass er kaum umweltfreundlich entsorgt oder gar recycelt werden kann. Weitere und lebensbedrohliche Folgen des technischen Fortschritts und des Wirtschaftens ohne ökologische Rücksichten sind Artensterben und Erderwärmung. Und dass moderne Angriffswaffen und Atomwaffen zwar technologisch besser und wirksamer als frühere Waffen, aber nicht besser für das Überleben der Menschen/Menschheit sind, zeigt ebenfalls die Ambivalenz des technischen Fortschritts.

Weniger negative Nebenwirkungen hat der medizinische Fortschritt, der tatsächlich dazu geführt hat, dass die Lebenserwartung und die Anzahl der bei ziemlich guter Gesundheit verbrachten Lebensjahre weltweit gestiegen sind. In Deutschland ist die Lebenserwartung freilich nicht in jenem Maße gestiegen, das angesichts der im Vergleich zu den Ausgaben anderer Staaten für das Gesundheitswesen sehr hohen Gesundheitskosten hierzulande zu erwarten gewesen wäre. Das liegt außer an falschen Prioritätensetzungen im deutschen Gesundheitswesen – ein Großteil der Kosten entsteht im letzten Lebensjahr der Patient*innen und dient weniger der Verlängerung des Lebens als vielmehr der Verlängerung des Sterbens, außerdem werden viele medizinisch fragwürdige oder sogar eindeutig nutzlose Operationen und Therapien durchgeführt, die für die Ärzt*innen und Krankenhäuser lukrativ sind – auch daran, dass viele Menschen in Deutschland nicht hinreichend auf eine gesunde Ernährung, ausreichend Bewegung sowie Stressreduzierung und genug Schlaf achten. Allerdings ist es, wenn mensch nicht selbst kocht bzw. kochen kann und auf Fertigprodukte, Kantinen und Gaststätten angewiesen ist, in Deutschland auch nicht ganz leicht, sich gesund zu ernähren.

Problematisch ist die Lage beim gesellschaftlichen und politischen Fortschritt. Lange wurde in den westlichen Demokratien erwartet, dass mehr Bildung, mehr Handel und mehr Wohlstand fast automatisch zu mehr Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sowie zu mehr Toleranz/Akzeptanz gegenüber/von Fremdem und Minderheiten führen. Aber in China ist zu beobachten, dass wirtschaftlicher Aufschwung ein diktatorisches Regime stabilisieren kann und dass technischer Fortschritt dem Regime die Mittel in die Hand gibt, die Bevölkerung nahezu lückenlos zu überwachen, zu indoktrinieren und zu disziplinieren. In Russland ist es Herrn Putin sogar gelungen, eine Demokratie Schritt für Schritt in eine Diktatur zu verwandeln. Dank der Erlöse aus dem Verkauf von Erdöl und Erdgas konnte Herr Putin die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung verbessern und sie so ruhigstellen. Die freie Presse schaltete er nach und nach zugunsten der von ihm kontrollierten, Propaganda verbreitenden Staatsmedien aus und auch das russischsprachige Internet brachte er weitgehend unter seine Kontrolle. Politische Gegner und Konkurrenten ließ er ins Gefängnis werfen oder/und ermorden. Seine Eroberungskriege gibt er als Verteidigungs- oder Befreiungskriege aus und reüssiert mit dieser Lüge nicht nur bei der Bevölkerung Russlands, sondern sogar bei deutschen Parteien wie der AfD, der Wagenknecht-Partei, der Linken und Teilen der SPD. Dank China, Nordkorea, Iran und weiterer Staaten sowie dank westlicher Unternehmen, die die nach dem Einmarsch in die Ukraine verhängten Sanktionen unterlaufen, erhält die russische Armee nach wie vor jene Waffen, die sie zur Zerstörung der Infrastruktur der Ukraine und zur Eroberung weiterer Gebiete benötigt.

Aber nicht nur in China, Russland und weiteren ausländischen Staaten hat es gesellschaftliche und politische Rück- statt Fortschritte gegeben. Auch in Deutschland haben wirtschaftliche Unsicherheit, Inflation, kaum regulierte Einwanderung, die Kosten der – immer noch unzulänglichen – Maßnahmen gegen die Klimakrise, steigende Mieten und Mangel an Wohnungen, die Engpässe und Kosten im Bereich der Pflege und im Gesundheitswesen, die Kosten der geplanten Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und der – deutschen Interessen dienenden – Unterstützung der Ukraine, der marode Bahnverkehr, der unzulängliche öffentliche Nahverkehr, die in weiten Teilen vernachlässigte Infrastruktur, aber auch die immer wieder öffentlich vorgeführte Zerstrittenheit der Ampelkoalition, das Zaudern und viel zu späte Reagieren des Bundeskanzlers usw. zu Frust und Wut, zu Fremdenfeindlichkeit, Minderheitendiskriminierung und – inzwischen häufig nicht mehr nur verbaler – Aggressivität geführt. Populistische Parteien, die keine vernünftigen Lösungen anbieten, aber die Ängste, den Ärger und die Wut über Unsicherheiten, Einschränkungen und ausbleibende Problemlösungen adressieren und verstärken, profitieren davon. Wähler*innen erwarten von Regierungen eben Problemlösungen, nicht Problemverschleppungen und öffentliche Streitereien.

Was ist zu tun?

Auch wenn die Lage düster erscheint, so ist doch noch längst nicht alles verloren. Der naturwissenschaftliche und der technische Fortschritt werden voranschreiten und der Menschheit wahrscheinlich irgendwann Lösungen für diverse Probleme bescheren. Allerdings ist es fahrlässig, darauf zu vertrauen, dass in Kürze technologische Wunder geschehen werden und wir deshalb einfach so weitermachen und Treibhausgase emittieren dürfen wie bisher. Nein, in Ermangelung eines hinreichend schnellen technischen Fortschritts ist es vielmehr notwendig, alle Anstrengungen darauf zu richten, den weiteren Ausstoß von Treibhausgasen zu beenden. Wie das geht, ist bekannt. Was fehlt, ist der politische Wille bei FDP, CDU, CSU, SPD, Linken und Wagenknecht-Partei – und der AfD sowieso –, den Wähler*innen reinen Wein einzuschenken und – unter Hinweis auf die positiven Effekte in der Zukunft – endlich das Notwendige zu tun.

Viele prominente Politiker*innen dieser Parteien sind dazu leider nicht bereit, sondern richten ihr Reden und Handeln offensichtlich zum einen an den Einflüsterungen von Wirtschaftsführer*innen und Lobbyist*innen, zum anderen an den Ergebnissen von Meinungsumfragen und Voksbefragungen im Bierzelt aus, kaum aber an wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wenn die demokratischen Parteien z. B. die Klimakrise – die AfD leugnet die menschengemachte Klimakrise gegen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse schlichtweg – nicht zu Wahlkampfzwecken missbrauchen würden, sondern sich allesamt ernsthaft sowohl um eine Begrenzung der Erderwärmung als auch um Schutzmaßnahmen gegen die Folgen der Erderwärmung in Deutschland (u. a. Extremwetter, Überschwemmungen, Hitze, Dürren, Brände) bemühen würden, wären die Verunsicherung vieler Bürger*innen – und dank rechtzeitiger Vorsorgemaßnahmen auch die Folgen der Erderwärmung in Deutschland – geringer und die Bürger*innen würden eher darauf vertrauen, dass die Politiker*innen die diesbezüglichen Probleme lösen und nicht nur (wieder)gewählt werden wollen. Gleiches gilt für andere existenzielle Bedrohungen wie das Artensterben oder den Kampf Russlands gegen die europäischen Demokratien. Der permanente Wahlkampf, den sich die Parteien in Deutschland liefern und der verhindert, dass sie wenigstens bei den wesentlichen Themen konzentriert und ergebnisorientiert zusammenarbeiten, trägt nicht zur Vertrauensbildung bei.

Selbst wenn die Problemlösungen mit finanziellen oder sonstigen Belastungen verbunden sind, werden meines Erachtens die meisten Bürger*innen diese Lösungen gegenüber dem Ausbleiben von Lösungen oder gar dem Ignorieren oder Leugnen wesentlicher Bedrohungen bevorzugen. Natürlich müssen die Lösungsvorschläge überzeugen, die Belastungen gerechtfertigt und die Vorteile für die Zukunft – z. B. Verringerung der Schäden, die die Klimakrise verursacht, preiswerter Strom aus Sonne- und Windenergie sowie Verminderung der Abhängigkeit von anderen Staaten bei der Energieversorgung – erkennbar sein. Außerdem dürfen die Belastungen nicht selbst zur existenziellen Bedrohung werden und Wohlhabende und Reiche müssen stärker zur Finanzierung herangezogen werden als Durchschnittsverdiener*innen, während die Armen gar nicht belastet werden sollten. Leider läuft es in Deutschland häufig anders, weil in der Regel nicht die  Durchschnittsverdiener*innen oder gar die Armen, sondern die Reichen und wirtschaftlich Mächtigen Einfluss auf die politischen Entscheider*innen haben – auch bei der Ampelkoalition.

Welche Fortschritte sind möglich?

Möglich ist – allem derzeit gegenteiligen Anschein zum Trotz – immer noch eine politische und wirtschaftliche Stärkung der Europäischen Union und damit jedes einzelnen Mitgliedslandes – wenn es gelingt, den Angriff Russlands auf die Ukraine und letztlich auf ganz Europa abzuwehren und die Europäische Union endlich handlungsfähig zu machen. Dass Viktor Orbán EU und NATO lahmlegen kann, zeigt, wie notwendig Reformen sind. Die Ukraine hätte möglicherweise bereits 2022 vollständig von russischen Truppen befreit werden können, wenn sie von den Unterstützerstaaten schnell und ausreichend mit Waffen und Munition versorgt worden wäre. Das ist bekanntlich nicht geschehen, und zwar u. a. – aber keineswegs allein – deshalb, weil der deutsche Bundeskanzler glaubte, zum einen Herrn Putin und zum anderen die vermeintlichen Friedensfreund*innen – und faktischen Putin-Unterstützer*innen – in der eigenen Partei nicht allzu sehr "verärgern" zu dürfen. Die Ukrainer*innen mussten für diese doppelte Rücksichtnahme – und für die mangelnde militärische Unterstützung auch durch die anderen europäischen Staaten, insbesondere Ungarn – bislang bereits einen hohen Preis in Form von massiven Zerstörungen der zivilen Infrastruktur und kultureller Denkmäler, vielen tausend zusätzlichen Verletzten und Toten, der brutalen Willkürherrschaft der Besatzer*innen in den von Russland okkupierten Gebieten und der Verschleppung von zigtausend Kindern nach Russland zahlen. Aber es ist noch nicht zu spät, um Herrn Putin zu stoppen: Die Staaten der Europäischen Union und der NATO haben – selbst ohne die USA – die Ressourcen und die Fähigkeiten, Waffensysteme und Munition in ausreichender Menge und Qualität entweder selbst herzustellen oder weltweit einzukaufen und damit sowohl der Ukraine zum Sieg zu verhelfen als auch die Gefahr weiterer Eroberungskriege Russlands zu minimieren – sie müssten es nur endlich auch tun. Den Beteuerungen von Herrn Putin, die NATO nicht angreifen zu wollen, sollte mensch keinen Glauben schenken: Vor dem Angriff auf die Ukraine hat Herr Putin ebenfalls jede Angriffsabsicht bestritten. Wer dafür wirbt, den Ukrainer*innen die militärische Unterstützung aufzukündigen, handelt nicht im Interesse Deutschlands, sondern des russischen Diktators.

Möglich ist auch ein wirtschaftlicher und technischer Fortschritt in Richtung Kreislaufwirtschaft und Ressourcenschonung. Zusammen mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien könnte er dazu beitragen, trotz der Mittel, die zur Abwehr oder Minderung der Folgen der Erderwärmung aufgebracht werden müssen, trotz der Bedrohung durch Russland und der dadurch notwendig gewordenen Steigerung der Verteidigungsausgaben, trotz der demografischen Entwicklung und der damit verbundenen höheren Kosten für Rente, Pflege und Gesundheitswesen das Wohlstandsniveau zu halten. Eine gleichmäßigere Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland – z. B. durch einen für eine Rente deutlich über dem Existenzminimum ausreichenden Mindestlohn oder durch eine auskömmliche Mindestrente und durch eine Erbschaftsteuer, die der Konzentration von immer mehr Reichtum in immer weniger Händen tatsächlich entgegenwirkt – könnte helfen, Wohlstand für alle zu sichern.

Möglich ist außerdem und idealiter gesellschaftlicher/ethischer Fortschritt im Sinne der Überwindung von Egoismus zulasten anderer Menschen und im Sinne der Erkenntnis, dass ein gewisser Wohlstand und vor allem finanzielle Sicherheit in der Regel durchaus zu Zufriedenheit und Angstfreiheit – und zur Akzeptanz eines liberalen und demokratischen Staatssystems – beitragen, dass ein erfülltes Leben aber eher nicht Vermögensmehrung und Gewinnmaximierung zum Ziel hat.
 

Entstehungszeit: Juni 2024
 

nach oben