Wann ist das Leben lebenswert?

 

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Wann und warum ein Mensch sein Leben als erträglich oder sogar gelungen empfindet bzw. wann und warum er wünscht, lieber tot zu sein, lässt sich nicht generell sagen. Es haben sich schon Menschen umgebracht, die nach Meinung der meisten anderen Menschen dafür nicht den geringsten Grund hatten, während andererseits viele Schwerstkranke und Schwerstbehinderte zäh und ausdauernd um ihr Leben bzw. um mehr Lebensqualität kämpfen. Ob ein Leben lebenswert ist, hängt offenbar nicht bloß von äußeren, objektiven Faktoren, sondern in hohem Maße auch von der inneren Einstellung bzw. psychischen Verfassung ab.

Voraussetzungen
Gleichwohl lassen sich einige Voraussetzungen benennen, die bei den meisten Menschen erheblich zur Zufriedenheit mit dem eigenen Leben beitragen, nämlich

die Befriedigung körperlicher Grundbedürfnisse, insbesondere

  • Befriedigung von Hunger und Durst mit gesunden und möglichst auch wohlschmeckenden Lebensmitteln und Getränken
  • Abwesenheit von Kälte und Hitze bzw. Verfügbarkeit entsprechend temperierter Räume und/oder entsprechend temperierender Kleidung
  • Schutz vor Gefahren, Sicherheit vor Gewalttaten
  • Gelegenheit zu Schlaf, Entspannung und physischer Erholung / Abwesenheit von negativem Stress
  • Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen / Gesundheit im Sinne körperlichen Wohlbefindens
  • Gelegenheit zu sexueller Aktivität

sowie die Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse wie

  • gefühlte materielle bzw. wirtschaftliche Sicherheit
  • Freiheit / Sicherheit vor Verfolgung und Unterdrückung
  • als sinnvoll empfundene Tätigkeiten sowie Freude bereitende / Spaß machende Beschäftigungen
  • neue Erfahrungen / positiver Stress
  • Gelegenheit zur Zerstreuung / Entspannung und psychischen Erholung
  • Erfolg und Anerkennung / Selbstachtung und Selbstvertrauen
  • Erhalten und Schenken von Zuneigung und Liebe

Nicht alle diese Grundbedürfnisse sind bei allen Menschen und zu allen Zeiten gleich ausgeprägt: Während z. B. wohl fast alle Menschen Hunger und Durst, übermäßige Kälte oder Hitze, Überanstrengung, Schlafentzug, Folter und andere Gewalttätigkeiten nicht auf Dauer ertragen, ohne zu verzweifeln, können manche Menschen trotz schwerer Krankheiten und Behinderungen sowie ohne Sex offenbar durchaus glücklich und zufrieden leben. Es kommt anscheinend sehr darauf an, ob man das Positive, das man auch bei starken körperlichen Einschränkungen noch erleben kann, beachtet und würdigt oder ob man darüber hinwegsieht und auf jene Wünsche fixiert ist, die aufgrund der Umstände wie Krankheit, Behinderung, fortgeschrittenes Alter etc. nicht (mehr) erfüllbar sind.

Auch die psychischen Bedürfnisse unterscheiden sich von Mensch zu Mensch beträchtlich: So variieren z. B. der Wunsch nach Sicherheit und Planbarkeit einerseits und das Verlangen nach Freiheit und Abenteuer andererseits je nach Person sehr stark, wobei man wohl konstatieren darf oder muss, dass die meisten Menschen – jedenfalls im realen Leben, nicht auf der Ebene des Spiels und der Unterhaltung – mehr an Sicherheit und Planbarkeit als an Abenteuer und Nervenkitzel interessiert und dafür sogar bereit sind, auf Freiheit(en) zu verzichten. Unsicherheit und Risiken werden dagegen in der Regel nur unfreiwillig oder als unumgängliche Vorbedingungen für Erfolg und Anerkennung ertragen.

Erfolg und Anerkennung wiederum sind grundlegende Bedürfnisse des Rudeltieres Mensch: Nur wenige Menschen schaffen es, trotz ständiger Misserfolge und Entmutigungen ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln und zu behalten, und die, denen das gelingt, zehren in der Regel von der Bestätigung und Zuwendung, die sie in der Familie oder generell im privaten Umfeld erhalten haben bzw. immer noch erhalten. Selbst Schwerstkranke und Schwerstbehinderte wollen in der Regel nicht ständig bemitleidet werden, sondern akzeptiert oder sogar bewundert – und sei es dafür, wie gut sie ihr Kranksein oder ihre Behinderung meistern.

Noch wichtiger als Erfolg und Anerkennung durch ihre Bezugsgruppe ist für die meisten Menschen nur noch die persönliche Zuwendung, die ein Mensch erfährt und geben kann. Zurückweisung, Einsamkeit und Isolation werden von der weit überwiegenden Mehrheit der Menschen nicht gut verkraftet und nur wenige Menschen sind sich auf Dauer selbst genug und vollkommen glücklich und zufrieden, wenn sie ungestört ihrer Arbeit bzw. ihren Hobbys nachgehen können. Allerdings ist der Mensch nicht unbedingt auf andere Menschen als Gesellschafter angewiesen: Hunde, Katzen, Meerschweinchen, Wellensittiche und Papageien genügen ihm vielfach auch. Bei gottgläubigen Menschen kann das "Zwiegespräch" mit Gott eine eventuelle Einsamkeit lindern.

Psychische Krisen und Krankheiten
Aber selbst wenn alle gängigen Voraussetzungen für ein nach allgemein akzeptierten Maßstäben lebenswertes Leben – körperliche Gesundheit, Wohlstand, Glück in der Liebe, sinnvolle und/oder Freude bereitende Arbeit/Hobbys, genug Entspannung und Erholung, Erfolg und Anerkennung – erfüllt sind, kann es einem Menschen passieren, dass er sein Leben für nicht lebenswert hält und sich umbringen will. In der Regel ist der Grund dafür kein rationaler – etwa die rationale Einsicht, dass kein objektivierbarer Sinn des Lebens existiert –, sondern ein irrationaler und emotionaler, gleichwohl aber rational fassbarer, nämlich eine psychische Krise oder Krankheit, z. B. eine Depression oder Psychose.

Viele psychische Krisen und Krankheiten kann man heute mit Medikamenten oder Verhaltenstherapien in den Griff bekommen oder sogar vollständig heilen. Man sollte deshalb nicht zögern, bei Verhaltensauffälligkeiten, Wesensveränderungen oder gar bei der Andeutung/Äußerung von Selbstmordabsichten psychiatrische und notfalls polizeiliche Hilfe zu holen. Das Problem ist, dass Depressionen, Psychosen und ganz allgemein psychische Leiden zumal dann, wenn sie mit körperlichen Beschwerden einhergehen, von vielen Allgemeinmedizinern und selbst von Fachärzten wie z. B. Neurologen oft nicht als psychische Erkrankungen erkannt und entsprechend gar nicht oder falsch behandelt werden.

Freitod
Allerdings gibt es nicht nur solche von psychischen Krisen und Krankheiten ausgelösten, nicht wirklich freien Selbstmordabsichten, sondern durchaus auch Situationen, in denen ein Weiterleben z. B. wegen ständiger starker Schmerzen, völliger Hilflosigkeit, Bewegungsunfähigkeit oder drohender Demenz, also aus nachvollziehbaren Gründen und nach reiflicher Überlegung nicht mehr gewünscht wird. Zwar kann auch ein geistig verwirrter Mensch glücklich und zufrieden sein, ohne dass er selber darauf allerdings noch irgendeinen Einfluss hätte, aber für jemanden, der es gewohnt ist, selbstverantwortlich zu handeln und nicht unmittelbar auf andere Menschen angewiesen zu sein, kann die Perspektive eines unabwendbaren und vollständigen Kontroll- und Persönlichkeitsverlustes sehr wohl ein hinreichender Grund sein, sein Leben zu beenden. Dann ist es meines Erachtens angebracht, den Willen des betroffenen Menschen zu respektieren und ihn nicht am Freitod zu hindern, weil man selber z. B. als Christ den Freitod für inakzeptabel hält und meint, es besser zu wissen als der Leidende selbst.

Abgesehen davon, dass es schwer zu verstehen ist, warum die künstliche Verlängerung des Lebens mittels medizinischer Maßnahmen dem Menschen erlaubt sein soll, die künstliche Verkürzung dagegen nicht, halte ich die Versuche mancher Christen und Kirchenvertreter, leidende, hilflose oder von Leiden und Hilflosigkeit bedrohte Menschen dazu zu zwingen, gegen ihren Willen am Leben zu bleiben bzw. ihr Sterben zu verlängern, für anmaßend und mitleidlos. Da aktive Sterbehilfe in Deutschland nicht zuletzt aufgrund des kirchlichen Einflusses verboten ist, bleibt in diesem Lande einem hilflosen, also z. B. weitgehend bewegungsunfähigen Menschen, der sterben möchte, oft einzig die Möglichkeit, sich künstliche Ernährung oder Flüssigkeitszufuhr ausdrücklich zu verbitten und die Nahrungsaufnahme zu verweigern.1

Die Alternativen für weniger hilflose Menschen, z. B. In-den-Tod-Springen, sind wohl nicht verlockender. Meines Erachtens hat dagegen jeder Mensch, der bei klarem Verstand und nicht als Folge einer psychischen Störung wie einer Depression oder Psychose Sterbehilfe – auch aktive Sterbehilfe – wünscht, in ethischer Hinsicht ein Recht darauf, sofern er nicht noch für andere Menschen (Kinder, Partner, Eltern, von ihm abhängige Beschäftigte, auf ihn angewiesene Freunde) Verantwortung trägt. Letzteres dürfte aber bei Schwerkranken oder sehr alten Menschen kaum mehr der Fall sein. Ich selbst fände es sehr hilfreich, zur rechten Zeit selbstbestimmt aus dem Leben scheiden zu können, ohne dazu eine grausame, schmerzhafte oder Angst einflößende Methode wie Ersticken, Erhängen oder eben In-den-Tod-Springen wählen zu müssen, weil der Staat mir den Zugang z. B. zu Pentobarbital verweigert.

Wer seinen Willen auch in völlig hilfloser Lage respektiert wissen möchte, sollte rechtzeitig eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht sowie eventuell eine Betreuungsverfügung verfassen und so deponieren, dass sie im Ernstfall den Ärzten und dem Pflegepersonal auch tatsächlich vorgelegt werden können. Man kann mit einer Patientenverfügung zwar keine aktive Sterbehilfe veranlassen, aber immerhin festlegen, welche medizinischen Maßnahmen einschließlich z. B. Wiederbelebung, künstlicher Ernährung und künstlicher Beatmung in welchen Fällen vorgenommen bzw. unterlassen werden sollen. Die Bestellung eines Bevollmächtigten ist ebenfalls sehr sinnvoll, damit jemand, dem man vertraut, dafür sorgt, dass die Bestimmungen der Patientenverfügung auch tatsächlich umgesetzt werden und nicht selbstherrliche Mediziner oder Pflegepersonen oder vom Gericht eingesetzte Betreuer den schriftlich fixierten Willen des Patienten aus religiösen oder sogar finanziellen Gründen ignorieren.

Die oder der Bevollmächtigte sollte den Willen des Patienten auch gegen Widerstände durchsetzen können, also z. B. fähig sein, bei Fangfragen wie jener, ob man die oder den Pflegebedürftigen denn tatsächlich verhungern oder verdursten lassen wolle, angemessen zu reagieren sowie die Zustimmung zu lebensverlängernden Maßnahmen, die nicht im Sinne der bzw. des Pflegebedürftigen sind, konsequent zu verweigern – also z. B. zum Anbringen einer Magensonde, wenn der Patient erkennbar keine Nahrung mehr aufnehmen möchte oder sogar eine solche dauerhafte künstliche Ernährung in einer Patientenverfügung ausdrücklich untersagt hat. Derartige das Leiden verlängernde Maßnahmen müssen insbesondere Privatpatienten befürchten.

Wer nach reiflicher Abwägung der nach verständigem Ermessen in der vermutlich verbleibenden Lebenszeit noch zu erwartenden Freuden und Leiden und der möglichen Folgen für seine Umgebung den Freitod wählen möchte, bevor ihn ein schweres Schicksal knechtet und ihn eventuell völlig von anderen Menschen, denen er gleichgültig ist, abhängig macht, sollte meiner Meinung nach die Möglichkeit erhalten, eine tödlich wirkende Dosis eines geeigneten Schlaf- oder Schmerzmittels einzunehmen. Warum sollte für den Menschen zum Beenden des Lebens nicht hilfreich sein, was wir unseren leidenden Hunden, Katzen und sonstigen tierischen Freunden guten Gewissens gönnen?

1 Vgl. Sie zum Sterbefasten z. B. die Website http://www.sterbefasten.de/. Vgl. Sie zum Thema Sterbekultur z. B. das Buch "Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin" von Michael de Ridder, München 2010. Der Bundesgerichtshof hat am 25.06.2010 in seinem Urteil zum Fall Wolfgang Putz den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen auf der Grundlage des Patientenwillens für nicht strafbar und sogar für geboten erklärt (Pressemitteilung 129/10 vom 25.06.2010 und Urteil des 2. Strafsenats vom 25.6.2010 - 2 StR 454/09 -).
 

Entstehungsjahr: 2010
 

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