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Was wir glauben, hängt in der Kindheit und häufig weit darüber hinaus davon ab, was unsere Eltern und sonstigen Bezugspersonen uns an Glauben lehren und vor allem vorleben. Entscheidend für unseren Glauben sind dabei in der Regel weniger die religiösen Lehren im Detail, sondern die religiösen Rituale sowie die Beobachtungen, ob und wie sich der Glaube auf das Leben der Gläubigen auswirkt. Konkret: Fragen nach der Dreifaltigkeit, der Gottmenschheit Jesu, dem Sühnecharakter des Kreuzestodes Jesu oder der Jungfräulichkeit Mariens vor, während und nach der Empfängnis Jesu sind zunächst von geringem Interesse, während der Gefühlsgehalt von Gottesdiensten, das Gottesbild der Eltern und anderer Bezugspersonen sowie das verständnisvolle und hilfreiche oder eher rücksichtslose und hartherzige Handeln der Gläubigen und der religiösen Autoritäten gewöhnlich großen Einfluss auf die Religiosität der Heranwachsenden haben.
In der Pubertät werden mit wachsender Selbständigkeit und wachsendem Wissen in der Regel auch die religiösen Überzeugungen überprüft. Sofern nicht bereits vorher durch persönliche negative Erfahrungen mit betont gottgläubigen Menschen Glaubenszweifel geweckt wurden, stellen sie sich zumindest bei wissbegierigen und nachdenklichen Menschen spätestens jetzt ein, und zwar mit zunehmender Kenntnis der nicht immer rühmlichen Geschichte und Gegenwart der meisten, zumal der zu weltlicher Macht gelangten Religionsgemeinschaften, der Unverständlichkeit oder sogar Widersprüchlichkeit ihrer Lehren, der Unvereinbarkeit ihrer Lehren mit den Lehren anderer, mit dem gleichen Wahrheitsanspruch auftretender Religionen und Konfessionen sowie der Infragestellung aller dieser Wahrheitsansprüche durch die Naturwissenschaften, die eine zwar nicht vollständige, aber doch ziemlich erfolgreiche und überzeugende Welterklärung ohne Gottes- und Seelenhypothese liefern. Übrig bleiben häufig eine diffuse Sehnsucht nach Sinn, Hoffnung, Orientierung und Geborgenheit trotz aller offensichtlichen Zufälligkeiten des Daseins und aller Schicksalsschläge sowie ein diffuser Glaube an irgendeine höhere Macht.1
Als Resultat solcher Zweifel und Überlegungen und von Erkenntnissen der Religionskritik lässt sich Folgendes festhalten:2
Ethische Empfehlungen / Ge- und Verbote im Christentum
Die bekanntesten religiösen Ge- und Verbote sind im abendländischen Kulturkreis vermutlich die 10 Gebote. Aus ihnen und den übrigen Geboten der Tora ergibt sich als Hauptgebot bezüglich der Mitmenschen das Gebot der Nächstenliebe. Es verpflichtet dazu, den Mitmenschen nicht nur nicht zu schaden, sondern ihnen zu helfen und dabei auch den eigenen Besitz einzusetzen, wie z. B. das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zeigt.
Jesus geht an anderer Stelle sogar noch weit darüber hinaus und empfiehlt das Verschenken des gesamten Vermögens an die Armen (Mk 10,17-25). Da eine solche Forderung dem natürlichen menschlichen Besitz- und Sicherheitsstreben widerspricht, sind ihm hierin nur wenige Christen gefolgt, z. B. Elisabeth von Thüringen und Franz von Assisi. Die Institution Kirche selbst hat das Armutsgebot spätestens nach ihrer Etablierung als römische Staatskirche weitgehend verdrängt und verdrängt es zumindest in Deutschland noch heute. Weder empfiehlt sie den Wohlhabenden mit Nachdruck Verzicht noch leistet sie selber solchen: Katholischen und evangelischen Geistlichen geht es in Deutschland finanziell gut. Ferner sind die Ausbeutung und die (erwartete) Selbstausbeutung der Beschäftigten in kirchlichen Einrichtungen nicht geringer als in staatlichen Instituten und meistens noch nicht einmal geringer als in privaten, also vorrangig bis ausschließlich gewinnorientierten Unternehmen. Die Einrichtungen von Caritas und Diakonie, die Alten- und Pflegeheime, Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft werden zudem allesamt nur zum geringsten Teil (wenn überhaupt) von den Kirchen finanziert, sondern von den Steuerzahlern sowie von den Alten, Pflegebedürftigen, Kranken und Eltern selbst.3 Die Kirchensteuern dagegen werden größtenteils für die Bezahlung des kirchlichen Personals im engeren Sinne, insbesondere der Pfarrer und Pfarrerinnen, verwendet.
Auch bezüglich der übrigen Gebote geht Jesus nach dem Matthäusevangelium in der Bergpredigt weit über die im Alten Testament genannten Forderungen hinaus:
"Als Jesus die vielen Menschen
sah, stieg er auf einen Berg. Er setzte sich, und seine Jünger
traten zu ihm. Dann begann er zu reden und lehrte sie. Er sagte:
Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.
Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden. Selig,
die keine Gewalt anwenden; denn sie werden das Land erben.
Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie
werden satt werden. Selig die Barmherzigen; denn sie werden
Erbarmen finden. Selig, die ein reines Herz haben; denn sie
werden Gott schauen. Selig, die Frieden stiften; denn sie werden
Söhne Gottes genannt werden. Selig, die um der Gerechtigkeit
willen verfolgt werden; denn ihnen gehört das Himmelreich. ...
Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst
nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen
sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur
zürnt, soll dem Gericht verfallen sein; und wer zu seinem Bruder
sagt: Du Dummkopf!, soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen
sein; wer aber zu ihm sagt: Du (gottloser) Narr!, soll dem Feuer
der Hölle verfallen sein. Wenn du deine Opfergabe zum Altar
bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen
dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und
versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere
deine Gabe. ...
Ihr
habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe
brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern
ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.
...
Ferner ist gesagt worden: Wer
seine Frau aus der Ehe entlässt, muss ihr eine Scheidungsurkunde
geben. Ich aber sage euch: Wer seine Frau entlässt, obwohl kein
Fall von Unzucht vorliegt, liefert sie dem Ehebruch aus; und wer
eine Frau heiratet, die aus der Ehe entlassen worden ist, begeht
Ehebruch. ...
Ihr habt gehört,
dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich
aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen
Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange
schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. Und wenn dich einer
vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass
ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer zwingen will, eine
Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm. Wer dich bittet,
dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab.
Ihr
habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten
lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure
Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne
eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne
aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte
und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben,
welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die
Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit
Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Ihr sollt also
vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist."
(Mt. 5,1-48)
In der Feldrede des Lukasevangeliums (Lk 6,17-49) finden sich ähnliche Gedanken.4
Auch wenn die Texte erst Jahrzehnte nach dem Tod Jesu entstanden und folglich keine genauen Wiedergaben der Worte Jesu sind, wird man ihnen doch entnehmen dürfen, dass das Hauptanliegen Jesu eine unbedingte Menschenliebe war, die selbst die Feinde einschließt und sich nicht nur in Taten äußert, sondern auch die Gedanken bestimmt.
Aus praktischen Erwägungen heraus wurden die Gebote der Bergpredigt und die Empfehlung Jesu, den gesamten Besitz an die Armen zu verschenken, schon bald mit vielerlei Rechtfertigungen relativiert: Es ist eben erfahrungsgemäß weder leicht noch sinnvoll, auch die linke Wange hinzuhalten, wenn man auf die rechte geschlagen wird, und es ist nicht nur eine Zumutung, seinen gesamten Besitz aufgeben zu sollen, sondern es bringt auch den Armen nicht viel, wenn man ihnen seinen gesamten Besitz schenkt, aber nicht dafür sorgt, dass sie auf Dauer ihr Auskommen haben. Investitionen in Arbeitsplätze, Bildung und Infrastruktur sind langfristig effektiver. Trotz aller Relativierungen der Forderungen Jesu sind materielle Anspruchslosigkeit, Gewaltlosigkeit, Großzügigkeit, Güte, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Nachsicht, Barmherzigkeit, Rücksichtnahme etc. bzw. generell eine Haltung der Nächsten- und auch Feindesliebe aber Werte, die von den christlichen Kirchen niemals grundsätzlich in Frage gestellt wurden – freilich häufig auch nicht gelebt oder konsequent angestrebt wurden.5
Noch zwei Anmerkungen: Ohne Androhung von Gericht und Hölle kommt der Jesus der Evangelien selbst in der Bergpredigt nicht aus. So menschlich verständlich jedoch Strafandrohungen für Fehlverhalten sind, so wenig vertragen sie sich mit der Liebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, die Christen Gott zuschreiben. Unendliche Strafen für endliche Vergehen zu verhängen – und alle menschlichen Verbrechen sind notwendigerweise endlich, wie schrecklich sie auch sein mögen –, ist weder gerecht noch gar barmherzig. Zudem ist zu berücksichtigen, dass es mit der Willensfreiheit und also auch mit der Schuldfähigkeit des Menschen sowieso nicht weit her ist.6 Fazit: Falls es die Hölle gibt, muss sie – entgegen der offiziellen Lehre der Kirchen – logischerweise leer sein. Wer ein strafloses Erlassen aller Schuld für ungerecht hält, mag ans Fegefeuer glauben. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn legt freilich eine Haltung des bedingungslosen Verzeihens nahe.
Aus dem gleichen Grund kann man die Kreuzigung Jesu kaum noch als Sühneopfer für die Sünden der Menschheit verstehen. Für die Urchristen war der Gedanke des Sühneopfers zwar ganz selbstverständlich, denn blutige Opfer zur Versöhnung eines Gottes oder einer Göttin waren fester Bestandteil aller ihnen bekannten Religionen – auch des Judentums. Wenn man aber ernsthaft an einen Gott glaubt, der die Liebe selbst ist, wie kann man dann zugleich glauben, dass dieser Gott den Kreuzestod eines Menschen oder sogar seines eigenen Sohnes fordert – anstatt allen Schuldigen ihre Schuld einfach ohne Gegenleistung zu erlassen?7
Zweite Anmerkung: Jesus verschärft in der Bergpredigt die Forderungen der 10 Gebote hinsichtlich der Verbote, zu töten und die Ehe zu brechen, insofern, als er nicht nur schädigendes Reden und Tun, sondern bereits den Gedanken daran bzw. entsprechende Gefühle zur Sünde erklärt. Das ist äußerst problematisch: Erstens kann kein Mensch bestimmen, welche Gedanken und Phantasien ihm spontan in den Sinn kommen und welche Gefühle ihn spontan ergreifen, und zweitens hilft es nichts, diese Gedanken und Gefühle mit Macht zu verdrängen, weil sie sich dann erst recht aufdrängen (Rebound-Effekt). Aus psychologischer Sicht ist es besser, negative Gedanken und Gefühle ohne moralische Bewertung im Geiste durchzuspielen. Schließlich kann man Gedanken und Gefühle, die einem bewusst sind, besser kontrollieren als solche, die man unterdrückt, und aus einem Wunsch oder Gedanken – z. B. fremdzugehen oder jemanden zu beleidigen oder umzubringen – folgt nicht zwangsläufig die entsprechende Tat – sonst wären wir wahrscheinlich alle längst schon zu Mördern geworden.8
Die gleiche Problematik taucht beim 10. Gebot auf, hier allerdings bereits im Alten Testament selbst und nicht erst bei Jesus: Das Verbot, des Nächsten Frau und Haus etc. zu begehren, ist ein Verbot von Gefühlen, nämlich zum einen des Neides und zum anderen der Habsucht. Gefühle kann man sich aber nicht einfach verbieten, sondern lediglich zu kontrollieren versuchen.
Andererseits kann man sich
natürlich bemühen, einen Geisteszustand zu erreichen, in dem man
ohne psychische Anstrengung gewohnheitsmäßig ständig auf seine
Gedanken und Gefühle achtet, sie kontrolliert und so dafür
sorgt, dass sie – bzw. andernfalls eventuell daraus
resultierende Worte und Taten – weder einem selbst noch den
Mitmenschen schaden. Allerdings hat das Christentum kaum mentale
Techniken entwickelt, die geeignet sind, einen solchen Zustand
herbeizuführen – im Gegensatz zum
Buddhismus, der eine Fülle von
Meditationstechniken bietet, um Affekte und Gedanken zu lenken und zum Zustand des
Nirwanas zu gelangen.
Ethik des Buddhismus
Obwohl die religiösen Konzepte von Buddhismus und Christentum sich radikal unterscheiden, sind die ethischen Ziele doch weitgehend identisch – nur beruhen sie im Christentum auf dem Vorbild und den Empfehlungen Jesu, während sie im Buddhismus Früchte der Selbstbefreiung von Gier und Habgier, Zorn und Hass, Verblendung und Unwissenheit sowie der Entwicklung von Güte und Mitgefühl nicht nur mit allen Mitmenschen einschließlich der Feinde, sondern mit allen fühlenden Lebewesen sind.
Es ist unmittelbar einsichtig,
dass persönliche Bedürfnislosigkeit, Mitgefühl und Güte sowie
Einsicht in die Gründe menschlichen Fehlverhaltens fast
zwangsläufig zur
Nächstenliebe und
Feindesliebe führen.
Mögliche positive Auswirkungen des Glaubens
Als mögliche positive Auswirkungen des Glaubens neben – bzw. zum Teil auch in Konkretisierung – der Nächsten- und Feindesliebe sind u. a. zu nennen:9
Mögliche negative Auswirkungen des Glaubens
Damit sind wir bei den Schattenseiten des Glaubens bzw. des Wirkens von Religionsgemeinschaften:
Fazit
Was also können wir glauben? Was
sollen wir tun?
Angesichts der überwiegend positiven Auswirkungen des Glaubens
an einen gütigen und hilfreichen Gott auf den Gläubigen selbst,
aber indirekt auch auf seine Umgebung und die Gesellschaft
insgesamt wird man den an einen solchen Gott Glaubenden raten dürfen, ihren Glauben
zu pflegen und gemäß den Hauptgeboten ihres Glaubens (Nächsten-
und eventuell sogar Feindesliebe) zu handeln. Was die konkreten
Glaubensinhalte und ethischen Normen und Verhaltensregeln im
Detail betrifft, wird man sie dagegen zur Vorsicht, zu
konsequenter Nutzung ihres Verstandes und zur Prüfung der Normen
und Regeln im Lichte von Vernunft und Menschenliebe mahnen
müssen. Falls offizielle Lehren und Handlungsanweisungen ihrer
jeweiligen Glaubensgemeinschaft diese Prüfung nicht bestehen
sollten, sollten sie diese dann logischerweise auch nicht
glauben bzw. nicht befolgen und nach Möglichkeit auf die
Irrtümer und Unzulänglichkeiten hinweisen, wie es z. B. für
Schwule und Lesben die
HuK tut.
Auch Personen, die religiös erzogen wurden, aber inzwischen
Glaubenszweifel und geistige Distanz zur real existierenden
Kirche entwickelt haben oder denen der Glaube sogar ganz
abhanden gekommen ist, wird man nicht zwangsläufig zum
Kirchenaustritt raten müssen, wenn sie z. B. noch gerne am
kirchlichen Leben teilnehmen und sich etwa in einer konkreten
Gemeinschaft von Gläubigen gut aufgehoben fühlen. Man kann
schließlich durchaus aus anderen Gründen als tiefer Gläubigkeit einer
Religionsgemeinschaft angehören, z. B. auch deshalb, weil man wesentliche
ethische Werte mit deren Mitgliedern teilt oder weil man seine
Religionsgemeinschaft als stabilisierenden gesellschaftlichen
Faktor schätzt und trotz aller Unzulänglichkeiten unterstützen
möchte. Manche Leute gehören auch "nur" deshalb einer Kirche an,
um in einem kirchlichen Bereich oder kirchlich geprägten Umfeld
arbeiten zu können.
Wer aber zwar noch Kirchenmitglied ist, jedoch nicht (mehr)
glaubt und auch keinen sozialen, beruflichen oder politischen
Grund sieht, in der Kirche, in die er als Säugling hineingetauft
wurde, zu bleiben, sollte im eigenen finanziellen Interesse
aus der Kirche austreten, sofern er
Kirchensteuern zahlen muss.
Die Alternative: Ethik ohne Religion
Auch wenn kirchliche Würdenträger
(Meisner,
Mixa,
Müller,
Dyba
etc.) es nicht gerne hören und bisweilen wahrheitswidrig das
Gegenteil behaupten:16 Ethisches Handeln ohne religiöses Fundament
ist nicht nur möglich, sondern dürfte der Normalfall sein.
Die
meisten Menschen stehlen, töten, lügen und betrügen nicht etwa
deshalb nicht, weil sie die 10 Gebote oder den Katechismus
kennen, sondern weil sie in ihrer Kindheit und Jugend gelernt
und verinnerlicht haben, dass man (normalerweise) nicht stiehlt,
tötet, lügt und betrügt, außerdem keine Gewalt anwendet und
niemanden beleidigt oder bedroht oder demütigt oder
einschüchtert oder erpresst oder sonstwie ohne Not physisch oder
psychisch schädigt, so wie man auch selbst nicht
bestohlen, belogen, betrogen, geschlagen oder sonstwie physisch
oder psychisch geschädigt werden möchte. Und sie
haben das in der Regel auch dann gelernt, wenn sie in
areligiösen Elternhäusern, Schulen und Staaten aufgewachsen
sind. Konkret: Die Kriminalitätsrate in überdurchschnittlich
religiösen Ländern wie den USA oder Italien ist keineswegs
niedriger als jene in so genannten entchristlichten Ländern wie
Schweden oder Norwegen oder als z. B. in Japan. Auch gibt es
genügend Beispiele für selbstloses Handeln von Agnostikern und
Atheisten sowie für sehr selbstsüchtiges Handeln von
Gottgläubigen.
Erwachsene richten sich offensichtlich im Normalfall nicht
bewusst nach Verhaltensregeln, die auf religiösen Überzeugungen
beruhen, sondern sie wiederholen und variieren je nach Situation
die in Kindheit und Jugend vielhundertfach eingeübten
Verhaltensweisen. Entscheidend für deren Akzeptanz sind die
Liebe und die sowohl klare Grenzen setzende als auch zunehmend
eigene, selbst verantwortete Entscheidungen des Kindes und
Jugendlichen fördernde Erziehungskunst der erwachsenen
Bezugspersonen, also meistens der Eltern und Lehrer.17
Gerechtigkeitsempfinden und Altruismus müssen dem Menschen
ebenfalls
nicht erst im Gottesdienst oder Religionsunterricht beigebracht
werden, sondern sind – wie allerdings ebenso der Egoismus –
grundlegende menschliche Wesenszüge, die man stärken, aber auch
schwächen kann und die ein Zusammenleben der
Menschen in Gruppen – und damit das Überleben der Menschheit –
überhaupt erst ermöglichten und nach wie vor ermöglichen. Ein
großes Problem der Menschheitsgeschichte war und ist freilich,
dass fremde Gruppen bzw. deren Mitglieder von Natur aus kein
Mitgefühl, kein Wohlwollen und keine Hilfsbereitschaft erwarten
können und häufig sogar bekämpft wurden und werden.18
Schließlich sei erwähnt, dass es im Prinzip sehr wohl denkbar
ist, ganz ohne religiöse Grundlage allein mit Vernunft und in
Kenntnis der Stärken und Schwächen des Menschen ein Gemeinwesen
zu schaffen, in dem jeder Mensch im Rahmen seiner Fähigkeiten
sowie begrenzt durch die identischen Rechte seiner Mitbürger die
Möglichkeit hat, selbstbestimmt zu leben und glücklich zu
werden. Die
Politische Philosophie kennt solche Entwürfe. In der Praxis freilich werden
die Chancen weitgehend durch Herkunft und Elternhaus
vorherbestimmt und die
persönliche Freiheit in der Regel durch wirtschaftliche Zwänge
eingeschränkt.
Häufig ist es die erfolgreiche Durchsetzung von Partikularinteressen der
wirtschaftlich Mächtigen und politisch Einflussreichen (Manager,
Unternehmer, Verwalter von Aktienfonds, Großaktionäre,
Spekulanten, Vermögensverwalter und reiche Erben, Besitzer von
Boulevardmedien, Freiberufler wie Ärzte, Apotheker, Anwälte,
Wirtschaftsprüfer und
Unternehmensberater bzw. deren Verbände)
mit Hilfe von Lobbyismus und Parteispenden, die auch in einer
Demokratie Gerechtigkeit
verhindert. Bisweilen hat man sogar den Eindruck, nur bedingt
in einer Demokratie zu leben, sondern in mancherlei Hinsicht in
einer Plutokratie mit demokratischer Fassade.
Was der Staat tun kann, um ein halbwegs gerechtes und
friedliches Miteinander zu ermöglichen, habe ich
bereits in Zufriedenheit
und Glück,
Kritik des reinen
Kapitalismus,
Brauchen wir Staatsbetriebe? sowie
passim skizziert. Einkommens- und Vermögensunterschiede wird
es freilich immer geben, solange Besitz als Statussymbol
gilt, und gewalttätige Psychopathen werden wohl
auch in Zukunft geboren werden. Aber dagegen, dass Menschen
lieblos oder falsch oder gar nicht erzogen werden, keine
Ausbildung und keine Arbeit bekommen und dann aus Frust, Gier
oder Wut sowie häufig alkoholisiert Verbrechen begehen, kann man
eine Menge machen.
1 Vgl. Sie dazu z. B. den
Beitrag von Christian Modehn
"Da muss doch noch etwas sein...“ Wenn Menschen noch an ein
„Höheres Wesen“ glauben in der Sendung "Lebenszeichen" des
WDR vom 13.05.2010.
2 Vgl. Sie zu den
Ursachen und Auswirkungen des Glaubens auch:
Woher kommen wir?
Wer sind wir? Wohin gehen wir? sowie
Homophobie und
Schwulenhass – Ursachen und Gegenmaßnahmen
3 Sogar die Bischöfe, Weihbischöfe und weitere
kirchliche Würdenträger werden in den meisten Bundesländern
nicht von der Kirche, sondern vom Staat bezahlt – als Ausgleich
für die Aufhebung der geistlichen Fürstentümer des Heiligen
Römischen Reiches Deutscher Nation zugunsten weltlicher
Fürstentümer (Reichsdeputationshauptschluss).
Die Nachkommen jener weltlichen deutschen Fürsten,
die gleichfalls 1803 oder später ihre Fürstentümer verloren,
erhalten dagegen meines Wissens weder von der Bundesrepublik
insgesamt noch von einzelnen Bundesländern Apanagen.
4 Die Evangelien sind freilich zumindest auf den
ersten Blick nicht völlig
widerspruchsfrei. Neben den Aufforderungen zur Nächsten- und
Feindesliebe findet sich auch der Satz "Meint ihr, dass ich
gekommen bin, Friede auf Erden zu bringen? Ich bin nicht
gekommen, Friede zu bringen, sondern das Schwert." (Mt. 10,34).
Allerdings geht aus dem Kontext und aus Lukas 12,51, wo es
heißt: „Meint ihr, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu
bringen? Nein, sage ich euch, nicht Frieden, sondern
Entzweiung.“, hervor, dass offenbar nicht gemeint ist, dass Jesu
Jünger zum Schwert greifen sollen, sondern dass sie damit
rechnen müssen, aufgrund ihres Glaubens angefeindet und
umgebracht zu werden.
In den heiligen Schriften anderer Religionen finden sich
sogar zahlreiche Widersprüche, die man selbst bei engelsgleicher
Gutwilligkeit nicht weginterpretieren kann. So steht z. B. im
Koran (Sure 2, Vers 256): "In der Religion gibt es keinen
Zwang." Andererseits jedoch wird gefordert (Sure 9, Vers 3):
"Tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet. Greift sie,
umzingelt sie und lauert ihnen überall auf."
Vgl. Sie zu den Widersprüchen z. B. den Artikel "Zurück zur
Religion?" von Hans-Willi Weis, PSYCHOLOGIE
HEUTE compact Heft 19, Weinheim 2008, sowie das Buch "Denn sie
wissen nicht, was sie glauben" von Franz Buggle, Reinbek 1992
und Aschaffenburg 2004 (überarbeitete und erweiterte
Neuauflage).
5 Vgl. Sie zu möglichen praktischen Konsequenzen für
das persönliche Handeln z. B. den Abschnitt
"Was kann ich selbst tun?" in
Wirtschaftspolitik –
Irrwege und Auswege – Überlegungen zum guten Leben.
6 Vgl. Sie zu Strafen, alternativen Maßnahmen und den
Ursachen von Gewalt z. B. Staatliches
Gewaltmonopol und Pflichten des Staates. Wie Frust,
Demütigungen, Wut, Eifersucht, Gier oder auch einfach
Alkoholgenuss im Übermaß zu Kontrollverlust und Verbrechen
führen können, zeigen anschaulich z. B. die Geschichten in den
Büchern "Verbrechen" und "Schuld" von Ferdinand von Schirach,
München 2009 bzw. München 2010.
7 Vgl. Sie dazu z. B.
den Beitrag von Matthias Morgenroth
Ist das Kreuz für uns gestorben? Fragen an die Opfertodtheologie
in der Sendung "Lebenszeichen" des WDR vom 02.04.2010.
8 Vgl. Sie dazu z. B. den Beitrag von Ute Naumann
Ich hätte ihn umbringen können ... Die Macht der bösen Gedanken
in der Sendung "Lebenszeichen" des WDR vom 01.08.2010.
9 Vgl. Sie dazu z. B. den Artikel "Glaube, Hoffnung,
Gelassenheit: Das therapeutische Wissen der Religionen" von
Nikolas Westerhoff, PSYCHOLOGIE HEUTE, 7/2010.
10 Vgl. Sie dazu z. B. die Artikel "Die Suche nach
Gewissheit" von Matthias Jung und das Gespräch "Fundamentalismus
ist das Gegenteil jedes wirklichen Glaubens" mit Werner Huth in
"Glaubenssachen. Religion. Spiritualität. Esoterik", PSYCHOLOGIE
HEUTE compact Heft 19, Weinheim 2008.
11 Vgl. Sie dazu z. B. den Artikel "Der Fluch der
Bewährung. Der 20-jährige Marco aus Berlin schlägt wahllos und
brutal zu, seit Jahren immer wieder. Warum bekommt ihn niemand
in den Griff, die Mutter nicht, die Jugendrichter nicht, die
Sozialbetreuer nicht?" von Kerstin Kohlenberg in DIE ZEIT,
08.07.2010, sowie das Buch "Das Ende der Geduld. Konsequent
gegen jugendliche Gewalttäter" von Kirsten Heisig, Freiburg im
Breisgau 2010.
12 Vgl. Sie dazu z.
B.: Staatliches
Gewaltmonopol und Pflichten des Staates
13 Vgl. Sie zur Wirtschaftsethik z. B.
Gedanken zur
Wirtschaftsethik. Wie wenig Verantwortung insbesondere
hochrangige Banker gegenüber ihren Mitmenschen und dem
Gemeinwesen empfinden, zeigt z. B. eindringlich das Buch
"Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der
Bankenwelt" von Claudia Honegger, Sighard Neckel und Chantal
Magnim, Berlin 2010.
14 Vgl. Sie zur Homophobie z. B.:
Homophobie und
Schwulenhass – Ursachen und Gegenmaßnahmen
15 Vgl. Sie zu den dunklen Kapiteln der
Kirchengeschichte z. B. die sehr ergiebigen, allerdings nicht
unumstrittenen kirchenkritischen Werke von
Karlheinz Deschner.
16 Vgl. Sie dazu z. B. den – ziemlich polemischen,
aber inhaltlich korrekten – Aufsatz
Das Märchen von der Bedeutung christlicher Wertevermittlung
von Ursula Neumann in der Zeitschrift
MIZ,
Ausgabe 4/98.
17 Vgl. Sie dazu z. B. "Die Kindheit. Wie sie uns
prägt, wie sie uns fordert, wie wir mit ihr leben lernen", PSYCHOLOGIE
HEUTE compact Heft 25, Weinheim 2010.
18 Vgl. Sie zu grundlegenden menschlichen Wesenszügen
z. B.
Wesenszüge des Menschen. Außer gegen Mitglieder fremder
Gruppen können sich die Aggressionen einer Gruppe auch gegen ein
– eventuell in irgendeiner Form gehandicaptes oder sonstwie
abweichendes – Mitglied der eigenen Gruppe richten, das dann
gemobbt wird und quasi als Blitzableiter für die negativen Emotionen der
übrigen Gruppenmitglieder fungiert. Vgl. Sie dazu z. B. den
Artikel "Die Sadisten von Hilchenbach. Auf einem städtischen Bauhof
im Siegerland quälten
Arbeiter jahrelang ihren körperlich behinderten Kollegen" von Sabine Rückert in DIE ZEIT,
22.07.2010.
Entstehungsjahr: 2010