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Was ist gerecht? Was ist
ungerecht? Das ist nicht immer leicht zu entscheiden.
Manches
wird jeder im westlichen Kulturkreis aufgewachsene Mensch ohne
zu zögern für Unrecht halten, z. B. Mord, Raub, Diebstahl, Erpressung, Gewalt,
Androhung von Gewalt, Betrug. Aber schon diese scheinbar
selbstverständlichen Ansichten werden nicht von allen Menschen
weltweit geteilt: In manchen Weltgegenden gelten heute noch
Gewalt, Raub und Mord gegenüber Fremden bzw. Angehörigen fremder
Sippen, Stämme, Völker oder Religionsgemeinschaften als gerecht
und natürlich. Insbesondere trifft das auf Gegenden zu, in denen
es keine funktionierende staatliche Ordnung und kein
Gewaltmonopol des Staates1 und damit keine Rechtssicherheit gibt,
sondern jeder Mensch, allenfalls unterstützt von seiner Familie
oder Sippe, ohne den Schutz einer staatlichen Ordnung zu
überleben versuchen muss. Die Bereitschaft, zum eigenen Vorteil
und dem von Verwandten Gewalt gegen Nichtverwandte anzuwenden,
war nach den überlieferten Zeugnissen sogar die längste Zeit der
Menschheitsgeschichte hindurch vorhanden und offenbar
überlebensnotwendig.
Auch in unserer Kultur, in der
körperliche Gewalt in der Regel verpönt bzw. strafbar ist, tritt
die evolutionär verwurzelte Gewaltbereitschaft immer
noch regelmäßig zutage, z. B. bei Raufereien und
Prügeleien unter Jungen, männlichen Jugendlichen und jungen
Männern, oder – in mehr oder weniger zivilisierter Form – bei
diversen Sportarten, z. B. Boxen oder Fußballspielen. Und
sogar das Töten von Menschen ist auch in unserem Kulturkreis
durchaus noch gesellschaftsfähig, und zwar im Krieg, wo geboten
und belobigt wird, was sonst verboten und strafbar ist, und ganz
normale Menschen ganz schnell zu Massenmördern mutieren.2
Selbst innerhalb ein und
derselben Gemeinschaft oder Gesellschaft gab und gibt es
unterschiedliche Rechte und Rechtsnormen z. B. je nach
Geschlecht, Herkunft und Stand bzw. sozialer Stellung. So
besaßen auch in europäischen Staaten Frauen bis weit ins 20.
Jahrhundert hinein weniger Rechte als Männer, obwohl
bezüglich Intelligenz und sonstiger wesentlich menschlicher
Eigenschaften zwischen Männern und Frauen kein Unterschied
besteht und Männer lediglich – jedenfalls im Durchschnitt – körperlich stärker, aggressiver
und herrschaftsbewusster sind – nach Dominanz strebende Männchen
halt, wie sie für alle Menschenaffenarten typisch sind. Darüber
hinaus waren Recht und
Gerichtsbarkeit die längste Zeit der Menschheitsgeschichte
hindurch nach Ständen oder Kasten oder Vermögensgruppen
differenziert: Adelige, Bürger, Leibeigene und Sklaven wurden
nach jeweils anderen Maßstäben beurteilt und das
Zensuswahlrecht gewichtete die Stimmen der Wähler nach deren
Steueraufkommen oder Besitz.
Unsere Vorstellungen von Recht
und Unrecht sind also brüchig und widersprüchlich und außer einer gewissen angeborenen Scheu,
den nächsten
Verwandten schweren Schaden zuzufügen, haben viele Menschen
offenbar keine nennenswerten natürlichen Hemmungen,
sich auf Kosten anderer Menschen Vorteile zu verschaffen, um im
Konkurrenzkampf um knappe Güter wie Wohlstand bzw. Reichtum,
gesellschaftliche Anerkennung oder Fortpflanzungschancen zu
reüssieren. Dass die meisten Menschen durchaus, und zwar schon
als Kleinkinder, unfaires Verhalten erkennen und Mitgefühl
empfinden können,3 führt offensichtlich nicht automatisch dazu,
dass sie sich selbst immer fair verhalten. Es gibt freilich auch
Menschen – und unter Straftätern dürften sie überproportional
stark vertreten sein –, die aufgrund hirnorganischer oder
psychischer Schäden überhaupt nicht zur Einfühlung in die
Empfindungen anderer Menschen und damit auch kaum zu
einem fairen Verhalten fähig sind.
Grundlagen des Rechts
Gerechtigkeit gegen jedermann zu
üben und nicht sich selbst und die eigene Klientel zu bevorzugen
ist folglich weitgehend eine Kulturleistung. Im Laufe der
europäischen Geschichte haben sich grundlegende Rechtsstandards
herausgebildet, die inzwischen von fast allen Staaten –
zumindest in der Theorie, wenn auch häufig nicht in der Praxis –
als Basis der Gesetzgebung und Rechtsprechung anerkannt werden.
Bisheriger Höhepunkt der Rechtsentwicklung ist die
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die im Falle ihrer
Verwirklichung jedem Menschen ein Leben in Freiheit und Würde
ermöglichen würden. Allerdings sind die Menschenrechte in keinem Land der Welt vollständig realisiert.
In Deutschland z. B. gibt es etwa bezüglich der Verwirklichung des Rechtes
auf angemessene Arbeit und angemessenen Lohn ganz gravierende Defizite, die durch Hartz IV
(Verpflichtung von Arbeitslosen zu unterbezahlten,
berufsfremden, reguläre Arbeitsplätze vernichtenden Jobs wie
Ein-Euro-Jobs, Minijobs, Leiharbeit und befristeten
Arbeitsverhältnissen)
noch bedeutend vergrößert wurden.
Artikel 23 (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte)
- Jeder hat das Recht auf
Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende
Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit.
- Jeder, ohne Unterschied, hat
das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
- Jeder, der arbeitet, hat das
Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und
seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende
Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere
soziale Schutzmaßnahmen.
Bei aller real existierenden Unterschiedlichkeit des
Rechtsempfindens in Abhängigkeit von Kultur und
Wirtschaftssystem lassen sich jedoch sehr wohl allein mit Hilfe der
Vernunft einige fundamentale Rechtsgrundsätze formulieren:
- Da alle Menschen von Natur
aus im Wesentlichen gleich und alle Differenzen nach
Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, Haarfarbe, Nasenform oder sonstigen äußeren
Merkmalen, Religion, sexueller Orientierung etc. gegenüber
den wesentlichen Übereinstimmungen in den grundlegenden
intellektuellen Fähigkeiten sowie den grundlegenden Gefühlen und
Bedürfnissen – z. B. Sicherheit, Anerkennung und Liebe – marginal sind, haben alle Menschen
logischerweise auch die gleichen Rechte und Pflichten.
- Die vornehmste Pflicht eines jeden
Menschen ist es, keinem anderen – jetzt oder zukünftig
lebenden – Menschen zu schaden – es sei denn in Notwehr. Die
Pflicht
ergibt sich logischerweise aus dem Wunsch und dem Recht jedes Menschen, von
keinem anderen Menschen geschädigt zu werden. Diese
Goldene Regel findet sich in allen Kulturen und meint
durchaus nicht nur körperliche Schäden, sondern auch
psychische Schäden – z. B. durch Missachtung, Beleidigung
oder Bedrohung – sowie materielle Schäden, und zwar nicht
nur solche, die auf physischer Gewalt beruhen, also Raub und
Diebstahl, sondern auch solche, die auf psychischer Gewalt,
also z. B. auf Betrug, Erpressung oder Übervorteilung
beruhen. Letzteres findet man häufig bei Verträgen zwischen
ungleich starken Partnern, z. B. zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern (insbesondere in Zeiten hoher
Arbeitslosigkeit) oder zwischen
Konzernen und Konsumenten (Stichwort: Verbraucherschutz).
Auch das Gemeinwesen insgesamt als die Gesamtheit seiner
Mitglieder ist – außer bei Notwehr – ethisch verpflichtet,
alles zu unterlassen, was einzelnen Mitgliedern, zukünftigen
Generationen oder den Mitgliedern anderer Gemeinwesen
schaden könnte.
- Es gibt aber nicht nur die
Pflicht, niemandem zu schaden, sondern zusätzlich jene,
anderen Menschen zu helfen, und zwar logischerweise in jenen
Situationen und in jenen Maßen, in denen man selbst Hilfe zu
erhalten wünscht. Damit ist nicht nur Notfallhilfe z. B. bei
Unfällen oder Überfällen gemeint, sondern auch finanzielle
Hilfe z. B. bei Arbeitslosigkeit, zeitweiliger Erkrankung
oder Erwerbsunfähigkeit als Folge von Alter, Krankheit,
Behinderung oder Kleinkinderbetreuung. Die Situationen und das
Ausmaß der Hilfe können natürlich nicht von jedem Einzelnen
selbst festgelegt, sondern müssen gesellschaftlich
ausgehandelt und gesetzlich geregelt werden – und die
Ergebnisse fallen in den verschiedenen Ländern je nach
Staatsverständnis und dem Grad der zwischenmenschlichen
Solidarität recht unterschiedlich aus. Die sehr
unterschiedlichen Vorstellungen von Selbstverantwortlichkeit
und Solidarität dürften einer der Hauptgründe dafür sein,
dass es transnationale Verträge über wechselseitige Hilfen
nicht nur im Verteidigungsfall und die damit verbundenen
Pflichten bezüglich einer untereinander abgestimmten
Wirtschafts- und Sozialpolitik bislang selbst in der EU nur
ansatzweise gibt.
In Staaten wie den USA, in denen die Bürger dem Staat
mehrheitlich misstrauen, wenig Steuern zahlen und gegen alle
Erfahrung und Vernunft glauben, dass ungeachtet höchst unterschiedlicher
Elternhäuser, unterschiedlicher Begabungen und sonstiger
unterschiedlicher Startvoraussetzungen sowie der Zu- und
Wechselfälle des Lebens jeder seines eigenen Glückes Schmied
sein könne,4 sind die sozialen Verhältnisse und die
öffentliche Infrastruktur entsprechend schlecht sowie die
Kriminalitätsrate hoch, während in Ländern wie Norwegen oder
Schweden, in denen von Staat und Gesellschaft erwartet wird,
ungleiche Startbedingungen nach Möglichkeit auszugleichen
und bei der Bewältigung der Wechselfälle des Lebens wie
Krankheit oder Arbeitslosigkeit zu helfen, die sozialen
Verhältnisse und die öffentliche Infrastruktur entsprechend
gut sind sowie die Kriminalitätsrate niedrig.5
Speziell in Deutschland haben es gerade jene Bevölkerungsgruppen,
denen es finanziell überwiegend gut bis sehr gut geht,
nämlich Beamte, Freiberufler, Unternehmer, höhere
Angestellte sowie alle, die nicht vorrangig von Arbeitslohn,
sondern von Zinsen, Dividenden, Mieteinnahmen etc. leben,
geschafft, sich weitgehend aus der Solidargemeinschaft
auszuklinken. Sie zahlen nichts oder kaum etwas in die
gesetzliche Arbeitslosenversicherung, die gesetzliche
Krankenversicherung, die gesetzliche Rentenversicherung und
die gesetzliche Pflegeversicherung ein und häufig – dank
diverser Steuerschlupflöcher und des Einheitssteuersatzes
auf Kapitalerträge – auch relativ wenig Steuern.
Natürlich gibt es trotz der
dargelegten, für jeden verständigen Menschen guten Willens
leicht einsehbaren Rechtsgrundsätze immer wieder Streitfälle und
Streitfragen. Oft geht es dabei um Ansprüche auf bestimmte
Güter. Zu einer gerechten Gesellschaft gehört deshalb, dass es
allgemein bekannte und gesellschaftlich anerkannte Gesetze gibt,
die die konkreten Rechte der Bürger regeln und schützen – und
nicht etwa deren Grundrechte verletzen – sowie geregelte,
transparente und gesellschaftlich allgemein akzeptierte
Verfahren für eine unparteiische Rechtsprechung. Freilich darf
man von den Bürgern andererseits erwarten, dass sie nicht wegen
jeder Kleinigkeit oder ohne jede Aussicht auf Erfolg eine Klage
einreichen. Ein solcher Missbrauch des Gerichts durch Kläger und
Rechtsanwälte – von denen manche angesichts der auch bei verlorenen Prozessen
anfallenden Anwaltsgebühren gerne sogar von vornherein
aussichtslose Fälle übernehmen – sollte vom Gericht finanziell
bestraft werden können.
Gerechter Lohn?
Ob das Arbeitseinkommen eines
Menschen gerecht ist, lässt sich oft nur schwer beurteilen,
denn es gibt insbesondere bei arbeitsteiligen und intellektuell
anspruchsvollen Tätigkeiten kaum objektive
Bewertungskriterien. Man wird deshalb häufig auf Kriterien wie
Ausbildungsgang und Berufserfahrung zurückgreifen müssen. Und selbst bei scheinbar
exakt erfassbaren Tätigkeiten wie dem Vertrieb ist es
gefährlich, nur auf vermeintlich objektive Daten wie den
kurzfristigen Verkaufserfolg zu achten, denn dieser Erfolg
könnte mit mittel- oder langfristigen Vertrauensverlusten
bezahlt worden sein. Wie aber will man z. B. den Wert des
Aufbaus einer soliden und langfristigen Kundenbeziehung
finanziell exakt erfassen?
Offensichtlich ist
dagegen, dass das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, das
in der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte genannt wird, weder
weltweit noch auch nur in Deutschland umgesetzt ist. So werden
in Kleinbetrieben in der Regel für die gleiche Arbeit geringere
Löhne gezahlt als in mittelgroßen Betrieben und dort wiederum
weniger als in großen Konzernen. Der Grund dafür ist, dass in
einer Marktwirtschaft der Gewinn eines Unternehmens, nicht
die Gerechtigkeit darüber entscheidet, was an Löhnen gezahlt
werden kann, und die Gewinne großer Unternehmen sind in der Regel
aufgrund ihrer Marktmacht nicht nur absolut, sondern auch prozentual größer
als jene von Kleinbetrieben. Zudem werden je nach Branche
für gleiche oder vergleichbar schwere und anspruchsvolle
Tätigkeiten unterschiedliche Löhne gezahlt. Denn manchen Branchen –
z. B. der
Automobil- oder der Pharmaindustrie – ist es gelungen, für ihre
prestigeträchtigen Produkte zumindest in Deutschland Preise durchzusetzen, die
weit über den Herstellungskosten liegen. Folglich können sie
hohe Löhne zahlen. Dagegen werden z. B. Alten-
und Krankenpfleger relativ schlecht bezahlt, weil in Deutschland
Sozialausgaben im Allgemeinen und Alter und Krankheit im
Besonderen nur als nahezu unvermeidbare Übel gelten und es sich
außerdem um typische Frauenberufe handelt.
Allerdings sollte es meines Erachtens Grenzen der Lohnungleichheit geben:
Ein Unternehmen, das seinen Beschäftigten keine Löhne zahlen
kann, von denen diese leben können, ist nicht
wettbewerbsfähig und sollte geschlossen werden, und ein
Unternehmen, das z. B. seine Monopolstellung in einer
strukturschwachen Region bzw. die hohe Arbeitslosigkeit in einer
Region dazu nutzt, seinen Beschäftigten keine
angemessenen Löhne zu zahlen, obwohl es genug Gewinn macht,
handelt ethisch verwerflich. Ein
gesetzlicher Mindestlohn könnte dieses Übel zwar nicht völlig beseitigen, aber
zumindest mindern.
Darüber hinaus wird oft selbst innerhalb
ein und desselben Betriebes die gleiche Arbeit unterschiedlich entlohnt: So verdienen in der Privatwirtschaft
Männer in der Regel mehr als Frauen und die Stammbelegschaft
wesentlich mehr als Leiharbeiter. Dafür gibt es überhaupt keinen
vernünftigen Grund außer dem Profitinteresse des Unternehmers
oder der Aktionäre und folglich sollte eine solche
Ungleichbehandlung angeprangert und bestraft werden. Damit das
geschehen kann, müssten die Übervorteilten natürlich zunächst
einmal erfahren, dass und in welchem Ausmaß sie übervorteilt
werden. Hilfreich wäre deshalb die Veröffentlichung der
Einkommen aller Beschäftigten im Intranet des Unternehmens. Man
muss ja nicht sofort dem Vorbild Schwedens oder Norwegens folgen, wo die
Finanzämter alle Steuer- und Einkommensdaten im
Internet veröffentlichen – offenbar mit dem Erfolg, dass die
Steuerehrlichkeit gestiegen ist.6
Leistungsgerechtigkeit?
Aber nicht nur mit dem gleichen
Lohn für gleiche Arbeit hapert es weltweit und auch in
Deutschland und wird es aufgrund der unterschiedlichen Gewinne
der Unternehmen wohl auch in Zukunft hapern, sondern auch mit der leistungsgerechten Bezahlung –
wenn man unter leistungsgerechter Bezahlung eine der beruflichen
Qualifikation, der Tätigkeit und dem Arbeitsaufwand
entsprechende Bezahlung versteht und nicht eine Bezahlung, die
der jeweiligen Marktnachfrage entspricht.
Konkret: Wenn es z. B. weniger
Informatiker gibt, als von Unternehmen nachgefragt werden,
steigt im Durchschnitt das Informatikergehalt, weil die
Unternehmen zumindest bei Neueinstellungen bereit sind, höhere
Gehälter als zuvor zu zahlen, obwohl sich an der Qualifikation
und Arbeitsleistung der Informatiker nichts geändert
hat. Es könnte also passieren, dass die länger dem Unternehmen
angehörenden und wegen ihres Alters vielleicht nicht mehr ganz
so leicht auf dem Arbeitsmarkt vermittelbaren oder auch
inzwischen lokal gebundenen, jedenfalls auf ihren derzeitigen
Arbeitsplatz angewiesenen Informatiker nunmehr weniger verdienen
als die frisch examinierten, obwohl sie nicht weniger und nicht
weniger gut arbeiten als diese. Ist das gerecht oder ungerecht?
Ferner: Wenn es mehr
Maschinenbauer gibt, als von Unternehmen nachgefragt werden,
sinkt im Durchschnitt das Maschinenbauergehalt, weil die
Unternehmen zumindest bei Neueinstellungen unter Hinweis auf die
zahlreichen Bewerber die Gehälter drücken können, obwohl sich an
der Qualifikation und Arbeitsleistung der Maschinenbauer
nichts geändert hat. Wenn nun das Studium der
Informatik und das des Maschinenbaus vergleichbar schwer sind
und die Einkommen von Informatikern und Maschinenbauern
dementsprechend bisher gleich hoch waren, sind dann die
Einkommensunterschiede zwischen den neu eingestellten
Informatikern und den neu eingestellten Maschinenbauern gerecht
oder ungerecht? Wahrscheinlich wird der
Normalbürger die Einkommensunterschiede als ungerecht empfinden,
der Wirtschaftswissenschaftler dagegen als gerecht.
Zwischen
etlichen Berufsgruppen mit vergleichbar langer und schwerer
Ausbildung und vergleichbar anspruchsvoller Tätigkeit sind die
Einkommensunterschiede aufgrund der unterschiedlichen
Marktnachfrage bzw. des übergroßen Angebotes im Durchschnitt
sogar extrem, z. B. zwischen Geisteswissenschaftlern und
Betriebswirten. Auch niedergelassene Ärzte, insbesondere Fachärzte und
Zahnärzte, verfügen über ein Einkommen, das deutlich höher ist
als das der meisten anderen Universitätsabsolventen und sich
nicht allein mit der Länge und Schwere der Ausbildung oder dem
Qualifikationsgrad der Tätigkeit erklären lässt, sondern nur mit
dem – ob gerechtfertigt oder ungerechtfertigt – hohen Ansehen
des Berufsstandes in der Öffentlichkeit und der
Verhandlungsmacht der Ärzteverbände.7
Völlig losgelöst von jeder
Leistung im Sinne von beruflicher Qualifikation oder
Arbeitsaufwand sind schließlich die Vergütungen von
Managern großer Aktiengesellschaften. Sie orientieren sich in
der Regel – jedenfalls in der Theorie – am mittel- und
langfristigen Unternehmensgewinn und werden in der Praxis von
Managerkollegen im Aufsichtsrat des betreffenden Unternehmens
bewilligt, die ihrerseits wiederum auf das Wohlwollen der
Managerkollegen im
Aufsichtsrat des sie beschäftigenden Unternehmens vertrauen können.
Ist eine solche Vergütungspraxis
gerecht bzw. leistungsgerecht? Dass die finanzielle
Selbstbedienung von Managern über den Aufsichtsrat nicht gerecht
ist, wird jeder bejahen. Aber wie leistungsgerecht ist die
Vergütung nicht nach Ausbildung oder Arbeitsaufwand oder Anzahl
der Mitarbeiter, sondern nach dem Unternehmenserfolg? Und wenn
entsprechend dem Unternehmenserfolg gezahlt wird: Inwieweit
haben die Manager den Unternehmenserfolg – wenn er denn eintritt
– tatsächlich selbst bewirkt bzw. inwieweit ist der
Erfolg einfach glücklichen Umständen oder den Mitarbeitern
geschuldet?
Außerdem: Ist es gerecht, dass
ein Mitarbeiter, der eine Verbesserung vorschlägt, die zu einer
beträchtlichen Senkung der Produktionskosten führt, oder der
eine wesentliche Produktverbesserung vorschlägt, die zu einem
beträchtlich höheren Absatz des Produktes führt, nicht am Gewinn
beteiligt wird, sondern bestenfalls eine vergleichsweise
bescheidene Einmalzahlung erhält, während die Manager aufgrund
ihrer direkten oder indirekten Beteiligung am Unternehmensgewinn
in viel höherem Maße finanziell von der Verbesserung
profitieren? Ähnliches gilt für das Verhältnis von
Wissenschaftlern und Unternehmen: Ist es gerecht, wenn
Unternehmen über Drittmittelprojekte an den Universitäten junge
Wissenschaftler zu Tarifen des Öffentlichen Dienstes mit
befristeten Verträgen für sich arbeiten lassen, aber den Gewinn
aus der Vermarktung der Innovationen, die daraus eventuell
resultieren, fast vollständig für sich behalten?
Das Gegenteil von Ärzten,
Wirtschaftsprüfern, Unternehmensberatern, Managern und sonstigen
Bestverdienern sind in finanzieller Hinsicht ungelernte
Arbeitskräfte, eventuell sogar ohne Schulabschluss, und
Arbeitskräfte mit einer relativ geringwertigen Ausbildung, z. B.
Friseure, Lageristen oder Fensterputzer bzw. Gebäudereiniger. Da
es inzwischen sehr viel weniger reguläre Arbeitsplätze für
Ungelernte und gering Qualifizierte gibt als Ungelernte und
gering Qualifizierte, können die Arbeitgeber die Löhne in diesem
Segment des Arbeitsmarktes fast nach Belieben drücken und zahlen
oft Löhne, von denen selbst Vollzeitbeschäftigte nicht leben
können, so dass sie zusätzlich Hartz IV beantragen müssen. Und
für solche Dumpinglöhne müssen viele Ungelernte und gering
Qualifizierte nicht nur den ganzen Tag praktisch pausenlos,
sondern oft auch körperlich hart arbeiten und schaden damit
langfristig ihrer Gesundheit. Gerecht oder ungerecht?
Der Gesetzgeber unterstützt
dieses Lohndumping, indem er Langzeitarbeitslose verpflichtet,
jede nicht sittenwidrige Tätigkeit anzunehmen, also z. B.
Ein-Euro-Jobs, Minijobs, Leiharbeitjobs und insbesondere auch
untertariflich bezahlte Jobs. Die so Beschäftigten tauchen in
der Arbeitslosenstatistik nicht mehr auf und nicht wenige
Politiker behaupten dann, die Arbeitslosigkeit sei gesunken.
Statt regulärer Arbeitsplätze wurden jedoch im Grunde lediglich
Scheinjobs geschaffen.
Der ethisch richtige Umgang mit
dem Problem bestünde dagegen meines Erachtens in Maßnahmen wie der Qualifizierung
der nicht oder ungenügend oder falsch Qualifizierten, einer
Gleichstellung der Leiharbeiter mit dem Stammpersonal bezüglich
des Lohns und sonstiger Vergütungen, der Abschaffung von
Ein-Euro-Jobs und Minijobs, weil sie reguläre Arbeitsplätze
vernichten, der Festlegung eines allgemeinen Mindestlohns, der
bei einer Vollzeitstelle ein Einkommen über dem Sozialhilfesatz
für eine Einzelperson garantieren müsste, der Förderung von
Teilzeitstellen, eventuell der Schaffung eines zweiten,
staatlich finanzierten Arbeitsmarktes mit
Arbeitsplätzen im sozialen und kulturellen Bereich und – falls
das alles noch nicht ausreicht, um die Arbeitslosigkeit zu
beseitigen – einer allgemeinen Verkürzung der Arbeitszeit – mit
oder ohne oder mit teilweisem Lohnausgleich, je nach Situation
des Unternehmens.
Im Übrigen ist es nicht so, dass
es auf dem regulären Arbeitsmarkt keinen Stellenbedarf für
Menschen ohne Hochschulabschluss mehr gibt: Wir müssen nur
bereit sein, die Arbeitsplätze zu finanzieren und die
Unternehmen zu zwingen, genügend Service zu bieten. In der
Alten- und Krankenpflege z. B. arbeiten sich viele Beschäftigte
krank, weil der Pflegeschlüssel häufig unzureichend ist, und
bei der Bahn, bei der Post, bei den Banken und im Einzelhandel
werden permanent Stellen abgebaut, obwohl partiell ein hoher
Beratungsbedarf besteht.
Inzwischen sind Unternehmen dazu
übergegangen, Mitarbeiter zu entlassen und als Leiharbeiter zu
wesentlich geringeren Löhnen und schlechteren Konditionen wieder
einzustellen, Zudem werden reguläre Arbeitsplätze in – für das
Unternehmen wesentlich günstigere – Minijobs gesplittet oder
sogar reguläre Arbeitskräfte durch praktisch kostenlose
Ein-Euro-Jobber ersetzt.8 Hartz IV macht's möglich.9
Reichtum durch harte Arbeit?
Eines der liebsten Märchen von
Unternehmern und Managern ist die Geschichte des Aufstiegs vom
Tellerwäscher zum Multimillionär – und zwar vor allem durch
Fleiß und harte Arbeit. Nun ist es sicherlich tatsächlich so,
dass viele Unternehmer und Manager viel Zeit und Energie
aufwenden, um ihr Unternehmen bzw. das Unternehmen, bei dem sie
angestellt sind, zum Erfolg zu führen. Dieser Einsatz ist aber
weder eine notwendige noch eine hinreichende Voraussetzung für
den Unternehmenserfolg:
Ein Unternehmer, der gute
Produkt- oder Dienstleistungs- oder allgemein Geschäftsideen,
gute Mitarbeiter und ein gutes Gespür für die Bedürfnisse und
Wünsche von Menschen hat, kann auch ohne Fleiß und harte Arbeit
höchst erfolgreich sein und sehr reich werden. So haben z. B.
weder Bill Gates noch Warren Buffett noch viele andere
Multimilliardäre wirklich geschuftet, um reich zu werden. Ein
Unternehmer dagegen, der keine guten Produkt- oder
Dienstleistungs- oder allgemein Geschäftsideen, keine guten
Mitarbeiter und kein Gespür für die Bedürfnisse und Wünsche von
Menschen hat, wird trotz allen Fleißes und harter Arbeit
finanziell ziemlich erfolglos bleiben – genauso wie viele
abhängig Beschäftigte oder Unternehmer ohne Beschäftigte, die
trotz harter Arbeit kaum jemals wirklich reich werden.
Eine wesentliche Voraussetzung,
um wirklich reich und nicht nur einigermaßen wohlhabend zu
werden, ist in der Regel die Fähigkeit, andere Menschen für sich
arbeiten zu lassen und für die verkauften Produkte und
Dienstleistungen mehr Geld zu erlösen, als die
Herstellungskosten einschließlich der Lohnkosten sowie die
sonstigen Aufwendungen betragen. Bei einer Massenproduktion preiswerter Verbrauchsgüter oder auch einer
Einzelproduktion sehr komplexer und teurer Investitionsgüter
kann ein Unternehmer auf diese Weise durchaus sehr reich werden.
Wenn der Absatz einbricht, z. B. weil die Bedürfnisse oder
Techniken sich gewandelt haben und der Unternehmer auf diesen
Wandel nicht oder nicht angemessen reagiert hat, kann er seinen
Reichtum oder Teile desselben freilich auch wieder verlieren,
sofern er sein Geld nicht rechtzeitig aus dem Unternehmen
herausgezogen hat.
Es gibt dagegen nur wenige
Möglichkeiten, reich zu werden, ohne selbst andere Menschen
Produkte und Dienstleistungen herstellen zu lassen, diese mit
Gewinn zu verkaufen oder zu vermarkten und den Gewinn selbst einzubehalten, wie es
Unternehmer, am Gewinn beteiligte Manager sowie Aktionäre tun. Eine
dieser Möglichkeiten besteht darin, reichen Unternehmern
und Managern zu hohen Preisen exklusive Produkte, z. B. Kunstwerke, zu verkaufen und auf diese Weise am Reichtum der
Reichen zu partizipieren. Letztlich wird hierbei der
Unternehmensgewinn bzw. ein Teil desselben von Unternehmern und
Managern an Künstler und Galeristen weitergereicht.
Eine andere Möglichkeit, ziemlich
reich zu werden, ohne selbst andere Menschen Produkte und
Dienstleistungen herstellen zu lassen, eröffnet sich für
Menschen, die außergewöhnliche und sehr nachgefragte Fähigkeiten
z. B. auf musikalischem oder sportlichem oder schauspielerischem
Gebiet besitzen: Da offensichtlich sehr viele Menschen bereit
sind, für solche Darbietungen zu zahlen, können derartig
begabte Menschen selbst dann, wenn jeder der vielen Zuschauer
oder -hörer nur eine relativ kleine Summe zahlt, es nicht nur zu
Ruhm, sondern auch zu beträchtlichem Reichtum bringen. Berühmte
Maler, Bildhauer etc. verdanken also ihren Reichtum vorrangig
den Reichen, berühmte Popstars, Sportstars, Schauspieler etc. im
Wesentlichen den Normal- oder sogar Geringverdienern.
Wie ist nun der Erwerb solchen
Reichtums zu bewerten? Ist es gerecht, dass der eine ohne allzu
viel eigene Anstrengung unter Ausnutzung seiner Mitmenschen zu
riesigem Reichtum gelangt, während mancher andere sich
abrackert, eventuell sogar durch die Arbeit gesundheitliche
Schäden erleidet und trotzdem bisweilen noch nicht einmal genug
verdient, um davon leben zu können?
Im Falle der Popstars,
Sportstars, Schauspieler etc. ist die Lage meines Erachtens in
der Regel klar: Sofern die Hörer und Zuschauer freiwillig für
die Darbietungen zahlen, ist der Reichtum gerecht erworben. Man
mag verwundert sein, wenn Geringverdiener freiwillig den
Reichtum von Rennfahrern oder Fußballspielern mehren, aber das
ist schließlich ihre eigene freie Entscheidung. Bei den Malern,
Bildhauern etc. hängt die Legitimität des Reichtums dagegen
davon ab, ob die reichen Käufer ihren Reichtum rechtschaffen
erworben haben. Manchmal ist die Antwort einfach: Ein Maler, der
einem Mafia-Boss ein Bild verkauft, dürfte wissen, dass er
blutbeflecktes Geld annimmt. Wie aber ist das Einbehalten des
Gewinns durch Unternehmer / Aktionäre / am Gewinn beteiligte
Manager ethisch zu beurteilen? Ist es gerecht
oder ungerecht?10
Meines Erachtens lässt sich die
Frage nicht generalisierend beantworten. Einen Lohn für seinen
Wagemut wird ein Unternehmer, der Geld und Zeit und Arbeitskraft
investiert, ohne sicher sein zu können, dass die Produkte und
Dienstleistungen anschließend auch in hinreichendem Maße
nachgefragt werden, wohl erwarten dürfen – und dieser Lohn
sollte gerechterweise größer sein als jener von Managern
vergleichbar großer Unternehmen, die kein eigenes Geld riskieren
und in der Regel persönlich finanziell gut abgesichert sind.
Andererseits wird man unter ethischem – und bei qualifizierten
Mitarbeitern ebenso unter betriebswirtschaftlichem – Aspekt erwarten dürfen, dass
ein erfolgreicher Unternehmer auch seinen Beschäftigten gute
Löhne zahlt und sie nicht schikaniert und ausbeutet, wie es
zumal in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, in denen die
Beschäftigten keine realistische Jobalternative haben, leicht
vorkommen kann.
Letztlich ist es eine innerbetriebliche Frage,
wie viel jedem Beteiligten –
Beschäftigten, Managern, Unternehmern bzw. Aktionären –
gerechterweise vom Gewinn zusteht und wie viel vom Gewinn neu
investiert werden muss, um das Unternehmen wettbewerbsfähig zu
halten oder noch wettbewerbsfähiger zu machen. Wenn die
Konkurrenz groß ist, dürfte sich der Unternehmensgewinn sowieso
in Grenzen halten, und wenn die Konkurrenz fehlt, sollte der
Staat dafür sorgen, dass sie entstehen kann, notfalls durch
Aufspaltung des Monopolkonzerns. Falls es sich um ein
natürliches Monopol handelt und die Menschen auf die Produkte
oder Dienstleistungen des Unternehmens angewiesen sind, sollte
das Unternehmen verstaatlicht oder zumindest stark reguliert
werden, um
eine Übervorteilung der Konsumenten durch überhöhte Preise zu
verhindern.11
Finanzmärkte: Wirtschaft als Glücksspiel
Schon die
Investitionsentscheidungen eines Unternehmens, das konkrete
Waren und Dienstleistungen anbietet, enthalten immer – falls es
sich nicht um ein Monopolunternehmen mit garantiertem Absatz
handelt – ein mehr oder minder großes unternehmerisches Risiko.
Gleichwohl basieren die Entscheidungen in der Regel auf
rationalen Überlegungen und sind nicht willkürlich. Es gibt aber
einen Bereich der Wirtschaft, der sich inzwischen fast völlig
von der Realwirtschaft abgekoppelt hat und – abgesehen von dem
Gesetz nach verbotenen, in der Praxis aber offenbar üblichen
Insidergeschäften – nahezu Glücksspielcharakter angenommen hat,
nämlich die Finanzmärkte.
Der trotz ihrer offensichtlichen
Falschheit immer noch vorherrschenden
wirtschaftswissenschaftlichen Theorie nach verhalten sich
Anleger rational und legen ihr Geld dort an, wo der größte
Gewinn zu erwarten ist. Die Praxis – z. B. Spekulationsblasen
einerseits, Kursverluste auch bei Aktien sehr wettbewerbsfähiger und
gewinnträchtiger Unternehmen bei einem allgemeinen Absacken des
Kursniveaus andererseits – aber lehrt, dass
Anleger sich häufig nicht rational verhalten, sondern sich
meistens der
Masse anschließen und in vielen Fällen aufgrund von unbegründeten Mutmaßungen,
Gerüchten, falschen Empfehlungen oder Warnungen etc. kaufen und
verkaufen. Und wie beim Aktienmarkt verhält es sich inzwischen
auch bei den anderen Finanzmärkten: Es werden Kredite vergeben,
ohne die Bonität des Kreditnehmers ausreichend geprüft zu haben.
Es werden Devisen gekauft und verkauft, ohne vorher die Chancen und
Risiken soweit als möglich kalkuliert zu haben. Bei der
inzwischen üblichen Kürze
der Haltedauer bzw. der Schnelligkeit der Transaktionen ist das
auch kaum noch machbar. Ein zusätzliches Beschleunigungs- und
Risikomoment stellt der automatisierte bzw. algorithmische
Handel dar, der bereits zu bedrohlichen Situationen geführt hat.12
Wie ist das alles ethisch zu bewerten? Handeln die
Teilnehmer der Finanzmärkte gerecht oder ungerecht? Und wenn sie ungerecht
handeln: Wie kann man ihnen Einhalt gebieten?
Wenn die Wetten an den
Finanzmärkten keine
Auswirkungen auf Dritte hätten, sondern wie z. B. Sportwetten im
Wesentlichen lediglich eine Umverteilung von Vermögen zwischen
den Wettpartnern zur Folge hätten, wäre daran ethisch nichts
auszusetzen – jedenfalls dann nicht, wenn alle Beteiligten auf
gleicher Augenhöhe agieren und nicht ahnungslosen
Kleinanlegern von Bankern z. B. Lehman-Zertifikate oder sonstige
risikoreiche Papiere als risikolose Geldanlagen aufgeschwatzt werden.
Tatsächlich hatten und haben aber Kredite, Aktienkurse,
Devisenkurse etc. sehr wohl massive Auswirkungen auf die
Realwirtschaft, und zwar dann, wenn sie nicht auf
vernünftigen Einschätzungen beruhen, stets negative Auswirkungen, weil
irrationale Kreditvergaben und Kurse ein rationales Kalkulieren
und Wirtschaften der Teilnehmer der Realmärkte unmöglich machen.
Daraus folgt in ethischer Hinsicht: Wer ohne Kenntnis der
wirtschaftlichen Situation von potenziellen Kreditnehmern, von
Unternehmen oder Ländern spekuliert und damit womöglich das
Unheil herbeiführt oder herbeizuführen hilft, das er fürchtet
oder auf das er gar spekuliert, schadet ohne Not anderen
Menschen und tut somit Unrecht, und zwar ganz unabhängig davon,
ob er selbst am Ende finanziell zu den Gewinnern oder zu den
Verlierern zählt. Denn jeder Mensch trägt für die absehbaren
Folgen seines Tuns Verantwortung.
Für die Staaten, die die
Bedingungen für das Agieren an den Finanzmärkten festlegen,
folgt aus der partiellen Irrationalität der Finanzmärkte, dass
sie langfristiges Investieren fördern, auf kurzfristige
Kursgewinne ausgerichtetes Spekulieren dagegen bestrafen
sollten. Vorschläge dazu gibt es genug – sie müssten von der
Staatengemeinschaft bzw. zumindest den wirtschaftlich
maßgeblichen Staaten "nur noch" umgesetzt werden.13
Aber die Banker und sonstigen Finanzjongleure haben offenbar
immer noch genug Macht und Einfluss, um eine wirksame
Regulierung zu verhindern.
Bildungs- und
Chancengerechtigkeit
Wenn es darum geht, ohne
unmittelbare Änderung der Besitzverhältnisse Gerechtigkeit zu
fördern, ist die Förderung von Bildungs- und
Chancengerechtigkeit zweifellos das Mittel der Wahl. Es dürfte –
zumindest in Deutschland und anderen Ländern, die sich als
Sozialstaat definieren – unstrittig sein, dass es nicht allein
Aufgabe der Eltern, sondern auch Aufgabe des Staates ist, für
eine den Bedürfnissen, Wünschen und Fähigkeiten der Kinder,
Jugendlichen und jungen Erwachsenen gerecht werdende – und damit
zugleich dem Staat und der Gesellschaft nützende – Erziehung,
Bildung und Ausbildung zu sorgen – und zwar notfalls auch gegen
den Willen der Eltern, sofern diese nicht fähig oder nicht
willens sind, ihre Kinder zu fördern und sie zu mindestens
gesetzestreuen, besser noch rechtschaffenen und am Gemeinwohl
interessierten Bürgern zu erziehen.14
Das Bemühen um Bildungs- und
Chancengerechtigkeit im beschriebenen Sinne befreit den
Gesetzgeber allerdings nicht von der ethischen Pflicht, darüber
hinaus langfristig auch dafür zu sorgen, dass sich Besitz- und
damit Machtverhältnisse nicht über Generationen hinweg
verfestigen. Dass ein cleverer Unternehmer oder Manager sehr
viel mehr verdient als z. B. selbst ein Nobelpreisträger für
Chemie oder Physik oder Medizin oder als ein hervorragender
Ingenieur oder als sonst jemand, der mehr zum Fortschritt der
Menschheit beiträgt als ein gewöhnlicher Unternehmer oder
Manager, mag man
angesichts der positiven Wirkungen des unternehmerischen
Handelns hinsichtlich Warenvielfalt etc. noch verschmerzen,
auch wenn es wohl kaum wirklich gerecht ist, aber wenn sogar
noch die Urururenkel des cleveren Unternehmers oder Managers ohne jede eigene
Leistung als der, tüchtige Manager bzw. einen geschickten
Vermögensverwalter zu finden und einzustellen, vom Reichtum des
Vorfahren profitieren, dürfte das wohl eindeutig nicht mehr
gerecht sein.
Denn Chancengerechtigkeit umfasst
mehr als nur Bildungsgerechtigkeit: Besitz eröffnet Chancen, die
Bildung allein nicht bietet, und zwar nicht nur durch die
Möglichkeit, den eigenen Besitz nach eigenem Gutdünken – und zum
eigenen Vorteil – einzusetzen, sondern z. B. auch dadurch, dass die
Herkunft aus einem vermögenden Elternhaus die Chancen auf eine
gute berufliche Position nicht nur im Bereich der Wirtschaft deutlich
verbessert.15 Deshalb ist eine gravierend ungleiche
Vermögensverteilung zumindest dann ungerecht, wenn sie die Folge
von Erbschaften und nicht von eigenen Aktivitäten ist.16
Generationengerechtigkeit
Neben der Gerechtigkeit gegenüber
den Zeitgenossen und der Bildungs- und Chancengerechtigkeit
gegenüber der nächsten Generation ist die Gerechtigkeit gegenüber zukünftigen Generationen
ein wesentlicher Bestandteil eines umfassend gerechten
Verhaltens.
Während der längsten Zeit der Menschheitsgeschichte war diese
Gerechtigkeit allerdings relativ irrelevant, weil die Möglichkeiten,
künftigen Generationen schweren Schaden zuzufügen, ziemlich
begrenzt waren.
Heute jedoch haben die Menschen
die Möglichkeiten und nehmen sie leider auch wahr, die
Lebenschancen ihrer Nachkommen auf viele Millionen Jahre, also
auf unvorstellbar lange Zeiträume hinaus zu beeinträchtigen, z.
B. durch die Produktion von Atommüll. Sie haben ferner trotz
mehrerer Abrüstungsverträge nach wie vor die Möglichkeit, die
gesamte Menschheit schlagartig durch einen Atomkrieg
auszulöschen. Darüber hinaus verändert der Mensch das Weltklima,
plündert die Rohstoffvorräte und reduziert drastisch die
Artenvielfalt durch die Besiedlung und wirtschaftliche Nutzung
bislang noch unberührter Lebensräume, durch die
Ersetzung kleinteiliger Kulturlandschaften durch großflächige
Monokulturen sowie durch die Überfischung und Verschmutzung der
Meere. Kurzum: Der Mensch zerstört seine eigenen
Lebensgrundlagen, wie es der
Club of Rome bereits 1972 in seinem Bericht "Die Grenzen des
Wachstums" vorausgesagt hat. Daran hat sich seitdem trotz
mancher Fortschritte in einzelnen Ländern bei der Begrenzung der Umweltverschmutzung und trotz
etlicher
Klimakonferenzen und Bemühungen um einen besseren
Artenschutz leider im Wesentlichen und weltweit
betrachtet nichts geändert.
Da von den Unternehmen
realistischer- und – aus betriebswirtschaftlicher Sicht jedes
einzelnen, im Konkurrenzkampf stehenden Unternehmens –
vernünftigerweise keine freiwilligen Leistungen bezüglich
Umweltschutz und Ressourcenschonung zu erwarten sind, müssten
der Staat bzw. die Weltstaatengemeinschaft bzw. die
wirtschaftlich und politisch stärksten Staaten
Generationengerechtigkeit forcieren. Dazu wären einerseits
umweltfreundliche und ressourcenschonende Verfahren zur Energie-
und Gütererzeugung zu fordern und zu fördern bzw. am besten der
Energieverbrauch durch Verfahren zur besseren Energienutzung zu
minimieren, die dann noch notwendige Energiegewinnung ganz auf
die Nutzung erneuerbarer Energien umzustellen sowie die
Gütererzeugung und der Güterverbrauch soweit als möglich zu
einer Kreislaufwirtschaft umzubauen, bei der wertvolle Rohstoffe
aus den verbrauchten Gütern zurückgewonnen und zur Produktion
neuer Güter eingesetzt werden. Andererseits wird man letztlich
manches einfach weltweit unter Strafandrohung verbieten müssen,
nämlich z. B.
- die Einleitung von
ungeklärten, teilweise giftigen Abwässern sowie von
unverrottbarem Plastikmüll etc. in Flüsse und
Meere,
- Technologien, die ein von keiner
Versicherung tragbares Risiko darstellen und/oder deren
Abfallprodukte nicht sicher entsorgt werden können,
- die weitere Vernichtung von
Naturlandschaften und natürlichen Lebensräumen nicht domestizierter
Tiere durch Besiedlung oder intensive wirtschaftliche Nutzung,
- großflächige Monokulturen,
die langfristig zu Bodenerosion, Versteppung und
Wüstenbildung führen,
- die Überdüngung der Äcker,
- die Überfischung der Meere,
- die industrielle Produktion von Gasen,
die zum Klimawandel beitragen,
- sowie den unkontrollierten Abbau von
Bodenschätzen.
Einige dieser Probleme lassen
sich theoretisch auch marktwirtschaftlich lösen, z. B. der
ungehemmte Verbrauch von Ressourcen durch eine drastische
Verteuerung derselben. Aber in der Praxis verteuern sich die
knapper werdenden Ressourcen erfahrungsgemäß erst dann
erheblich, wenn ein Großteil der weltweiten Vorräte bereits
verschwendet wurde, wie man am Beispiel der Erdöl- und
Erdgasgewinnung oder der Abholzung der Regenwälder leicht erkennen kann. Und schließlich ist es
Aufgabe des Staates, die Bürger vor Dieben, Räubern und Vandalen
zu schützen – nur eben auch die zukünftigen Bürger vor den
derzeit lebenden.
1 Vgl. Sie zum
Gewaltmonopol des Staates und seinen Folgen für Staat, Täter und
Opfer z. B. den Text
Staatliches Gewaltmonopol und Pflichten des Staates.
2 Vgl. Sie dazu z. B.
den Roman "Heldenangst" von
Gabriel Chevallier, aus dem Französischen
von Stefan Glock, München 2010, sowie das Buch "Soldaten –
Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben" von Sönke Neitzel und
Harald Welzer, Frankfurt a. M. 2011.
3 Vgl. Sie dazu z. B. den
Artikel "Wie die Moral zur Welt kommt – Werden wir mit
moralischen Instinkten geboren? Oder müssen wir moralische Ideen
erst mühsam erlernen? Die Entwicklungspsychologie hat
Erstaunliches über das moralische Empfinden bereits bei
Kleinkindern herausgefunden – und die Debatte über Universalität
und Rationalität der Moral neu belebt" von Paul Bloom,
PSYCHOLOGIE HEUTE, 11/2010, S. 59-64.
4 Vgl. Sie zu zwanghaftem
Optimismus und zum Glauben an die Machbarkeit des Glücks z. B.
die Bücher "Smile or Die. Wie die Ideologie des positiven
Denkens die Welt verdummt" von Barbara Ehrenreich, München 2010,
und "Das 11. Gebot. Mit Gelassenheit das Leben meistern" von
Ursula Nuber, München 2010, sowie den Text
Zufriedenheit und
Glück.
5 Vgl. Sie zu den
Systemunterschieden z. B. den Text
Freiheit statt
Solidarität? Welchen Staat wollen wir?
6 Vgl. Sie zu Steuern,
Steuergerechtigkeit und Steuerehrlichkeit z. B. den Text
Vorschläge für ein
besseres Steuersystem.
7 Vgl. Sie zu den
Schwächen des Gesundheitssystems in Deutschland und möglichen
Korrekturen z. B. den Text
Tipps zur
Gesundung des Gesundheitssystems.
8 Vgl. Sie zum Einsatz
von Ein-Euro-Jobbern und zu den Ergebnissen von Hartz IV z. B.:
Julia Friedrichs, Eva Müller und Boris Baumholt, Wir und Hartz
IV. Wie die Arbeitsmarktreform seit ihrer Einführung vor fünf
Jahren das Leben von drei Familien verändert hat, in: DIE ZEIT,
ZEITmagazin, 30.09.2010.
9 Die Hauptintention von
Hartz IV, nämlich vormaligen Gutverdienern nicht zeitlich
unbegrenzt eine – aus Steuermitteln finanzierte – hohe
Arbeitslosenhilfe zu zahlen, ist meines Erachtens gerecht, und
zwar speziell gegenüber jenen, die für das gleiche oder sogar
weniger Geld arbeiten müssen. Die Repressionen jedoch, mit denen
Langzeitarbeitslose zu Bewerbungen und zur Arbeit gezwungen
werden sollen, sind meines Erachtens ungerecht, denn der Staat
konnte und kann seine dann im Gegenzug bestehende ethische
Verpflichtung, jedem Langzeitarbeitslosen gemäß dem oben
zitierten Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte einen anständigen Arbeitsplatz anzubieten, ganz
offensichtlich nicht
erfüllen, sondern meistens nur Ein-Euro-Jobs offerieren.
Gerechterweise ist aber nicht nur der Arbeitslose ethisch
verpflichtet, sich um eine angemessene – nicht irgendeine! –
Arbeit zu bemühen, sondern das Gemeinwesen – nicht die
Wirtschaft! – ist seinerseits ethisch verpflichtet, für
angemessene Arbeitsplätze zu sorgen. Vollends sinnlos ist die
Verpflichtung von wegen Alters oder Krankheit oder einfach wegen
des völligen Fehlens geeigneter Stellen definitiv nicht mehr
vermittelbaren Langzeitarbeitslosen dazu, innerhalb bestimmter
Zeiträume eine bestimmte Anzahl von Bewerbungen zu schreiben,
obwohl alle Beteiligten wissen, dass keine dieser Bewerbungen
auch nur zu einem Vorstellungsgespräch führen wird.
Vgl. Sie zu
den negativen psychischen Auswirkungen sinnloser Bewerbungen z.
B.: Patricia Thivissen, Manchmal macht Aufgeben glücklich.
Menschen, die unerreichbare Ziele aufgeben, anstatt sie weiter
zu verfolgen, geht es besser, Interview mit Martin Tomasik,
PSYCHOLOGIE HEUTE, 7/2010, S. 12, sowie die Dissertation von
Herrn Tomasik: Martin J. Tomasik, Developmental barriers and the
benefits of disengegement, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
2008, ausgezeichnet mit dem Deutschen Studienpreis der
Körber-Stiftung.
10 Vgl. Sie dazu z. B. die
Texte Gedanken
zur Wirtschaftsethik und
Kritik des reinen
Kapitalismus.
11 Vgl. Sie dazu z. B. den Text
Brauchen wir Staatsbetriebe?
12 Vgl. Sie dazu z. B.:
Heike Buchter, Mark Schieritz und Arne Storn, Sind Spekulanten
böse? Überall auf dem Globus verwetten sie Billionen auf
Wertpapier, Währungen und Rohstoffe. Ihr Kalkül verändert die
Welt. Eine Rundreise zu Großinvestoren, Hedgefonds-Chefs und
Sekundenhändlern, in: DIE ZEIT, 02.09.2010.
13 Vgl. Sie dazu z. B.
die Texte Gedanken
zur Wirtschaftsethik,
Kritik des reinen
Kapitalismus und Zur
Wirtschaftslage: Was ist zu tun? sowie das ebenso
informative wie amüsante Buch "Anleitung
zur Weltverbesserung. Das machen wir doch mit links" von Robert Misik, Berlin 2010.
14 Dass die Praxis in
Deutschland nicht dem Ideal entspricht und etliche
Kinder – insbesondere Unterschichtkinder – falsch
oder unzureichend erzogen und nicht ihrem Potenzial entsprechend
gefördert werden, ist inzwischen allgemein bekannt. Vgl. Sie
dazu z. B. den Artikel "Vom ersten Tag an. Wer Kinder vor Armut,
Vernachlässigung oder Gewalt schützen will, muss früh anfangen –
am besten schon vor ihrer Geburt. Eine Aufgabe für
Familienhebammen" von Martin Spiewak in: DIE ZEIT, 09.06.2011.
Dass selbst
intensive Bemühungen, eine falsche oder unzureichende Erziehung
bzw. eine Null-Bock-Haltung, wie auch immer sie entstanden sein mag,
im Erwachsenenalter noch zu korrigieren, bisweilen nicht fruchten,
zeigt z. B. der Artikel "Kein Bock. Jungen Hartz-IV-Empfängern
werden von den Arbeitsagenturen Jobs angeboten, vielfach ohne
Erfolg. Wollen sie nicht arbeiten, oder können sie nicht? Zwei
Fälle aus München" von Christian Schüle in: DIE ZEIT,
18.11.2010.
In solchen Fällen wird man sich wohl damit begnügen
müssen, den Betreffenden Hartz IV zu zahlen und zu hoffen, dass
sie nicht straffällig werden. Falls die Betreffenden
Kinder haben, sollte man freilich darauf achten,
dass diese nicht ihren Eltern nacheifern, und sie deshalb
möglichst früh mit anderen Ansichten und Lebensstilen
konfrontieren. Im Übrigen gibt es aber natürlich bei vielen
Arbeitsplätzen auch gute Gründe, von ihnen nicht gerade
begeistert zu sein. Vgl. Sie dazu z. B. den Text
Kein Recht auf Faulheit?
15 Vgl. Sie zum Thema z.
B.: Michael Hartmann, Der Mythos von den Leistungseliten,
Frankfurt/Main 2002, oder: Klaus Schubert, Leistungseliten: Die
Bedeutung sozialer Herkunft als Selektionskriterium für
Spitzenkarrieren, Hamburg 2006, oder: Julia Friedrichs,
Gestatten: Elite. Auf den Spuren der Mächtigen von morgen,
Hamburg 2008.
16 Vgl. Sie zur
Erbschaftssteuer und sonstigen Steuern z. B. den Text
Vorschläge für ein
besseres Steuersystem.
Entstehungsjahr: 2010
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